SCHRIFTSTUDIEN
BAND
4 - DER
KRIEG VON
HARMAGEDON
Studie
4
Babylon
angeklagt vor dem höchsten Gerichtshof.
Bürgerliche,
soziale und kirchliche Mächte Babylons, der Christenheit, jetzt „auf
der Wage gewogen“. —
Die
Anklage gegen die bürgerlichen Mächte; gegen das jetzige soziale System;
gegen die kirchlichen Mächte. —
Schon
jetzt inmitten ihrer Feste erscheint die ihr Gericht kündende Handschrift,
leicht zu lesen, obwohl die Prüfung nicht zu Ende ist.
„Der
Mächtige, Gott, Jehova, hat geredet und die Erde gerufen vom Aufgang der
Sonne bis zu ihrem Niedergang ... Er ruft dem Himmel droben (den hohen
oder regierenden Mächten), und der Erde (den Massen des Volkes), um sein
(ihn bekennendes) Volk (die Christenheit) zu richten.“
„Höre,
mein Volk, und ich will reden, Israel (das nominelle, geistliche Israel -
Babylon, die Christenheit), und ich will wider dich zeugen ... Zu den
Gesetzlosen aber spricht Gott: Was hast du meine Satzungen herzusagen und
meinen Bund in deinen Mund zu nehmen? Du hast ja die Zucht gehasst und
hinter dich geworfen meine Worte. Wenn du einen Dieb sahest, so gingst du
gern mit ihm um, und dein Teil war mit Ehebrechern. Deinen Mund ließest
du los zu Bösem, und Trug flocht deine Zunge. Du saßest da, redetest
wider deinen Bruder (die wahren Heiligen, die Weizenklasse), wider den
Sohn deiner Mutter stießest du Schmähung aus. Solches hast du getan, und
ich schwieg; du dachtest, ich sei ganz wie du. Ich werde dich strafen und
es dir vor Augen stellen!“
„Merket
doch dieses, die ihr Gott vergesset, damit ich nicht zerreiße und kein
Erretter da sei!“ - Psalm 50:1, 4, 7, 16-22
Infolge
der Zunahme von Kenntnissen auf allen Gebieten, für welche die göttliche
Vorsehung im gegenwärtigen „Tag der Vorbereitung“ auf Christi
Tausendjähriges Reich gesorgt hat, werden heute die bürgerlichen und
kirchlichen Gewalten der Namenchristenheit angesichts der ganzen Welt auf
der Wage der Gerechtigkeit gewogen. Der Augenblick der Gerichtsverhandlung
ist gekommen, der Richter sitzt auf seinem Stuhl, die Zeugen, die ganze
Menschheit, sind zugegen, und die angeklagten „Gewalten“ bekommen nun
die Anklageakten zu hören und haben sich zu verantworten. Ihr Fall wird
in aller Öffentlichkeit verhandelt, und alle Welt sieht und hört mit
fieberhaft gespanntem Interesse zu. Der Zweck dieser Gerichtsverhandlung
ist freilich nicht, den großen Richter von der Schuld der Gewalten zu überzeugen;
denn deren Strafe ist durch die Propheten verbürgt und vorausgesagt, und
schon kann man an der Wand ihrer Festsäle die schrecklichen Worte: Mene,
mene, tekel, upharsin lesen. Die Verhandlung, in welcher Recht und
Unrecht, Lehrsysteme, Autorität usw. besprochen werden, bezweckt vielmehr,
allen Menschen den wahren Charakter Babylons klar zu machen, damit die
Menschen, nachdem sie lange in ihrem Wahn sich auf eingebildete Rechte
gestützt haben, jetzt, beim Sturze Babylons, eine Gelegenheit erhalten,
die Gerechtigkeit Gottes zu erkennen. Bei dieser Verhandlung wird der
Anspruch, den die Namenkirche auf größere Heiligkeit, göttliche Autorität
und den Beruf, über die Welt zu herrschen, erhebt, nicht minder in Frage
gezogen als ihre ungeheuerlichen und widerspruchsvollen Lehren. Sichtlich
beschämt und verwirrt angesichts einer solchen Menge von Zeugen, bemühen
sich die bürgerlichen und kirchlichen Gewalten, vertreten durch die
Regenten und Geistlichen, Rechenschaft von ihrem Tun abzulegen. Die
Annalen der Geschichte weisen keine Zeit auf, in welcher die Dinge so
gestanden hätten. Nie zuvor waren Geistliche, Staatsmänner und überhaupt
bürgerliche Regenten der öffentlichen Besprechung, einem wahren
Kreuzverhör, dem Tadel ihrer Mitmenschen ausgesetzt wie heute. Das ist
die Herzensprüfung, der sie Gott nun zu ihrer Verwirrung unterwirft.
Trotz ihrer Entschlossenheit und Bemühung, sich der Prüfung und dem
Kreuzverhör durch den Geist unserer Zeit zu entziehen, müssen sie es über
sich ergehen lassen, und die Verhandlung dauert fort.
Die
Massen fordern heutzutage ganz energisch die bürgerlichen wie die
kirchlichen Gewalten in der Namenchristenheit auf, ihren Anspruch auf göttliche
Berufung zum Regieren zu beweisen. Dabei übersehen sie aber nicht minder
als die Regenten selbst, dass Gott solche Regenten, wie sie die Menschheit
im allgemeinen wählen oder erdulden mag, seien sie gut oder schlecht,
eine Zeitlang, das heißt bis die Zeiten der Nationen um sind, zugelassen
hat (Band 3, Studie 3), dass Gott während dieser Zeit der Welt in
weitherzigster Weise gestattete, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen
und in ihrer Selbstregierung ihre eigenen Wege zu gehen. Der Zweck dieser
der Menschheit gewährten Freiheit war, dass alle Menschen erfahren
sollten, dass sie in ihrem gefallenen Zustand nicht fähig sind, sich
selbst zu regieren, und dass es nicht gut ist, zu versuchen, von Gott oder
voneinander unabhängig zu sein. (Röm. 13:1) Die Regenten und die
regierenden Klassen sehen dies zwar nicht. Sie haben die Gelegenheit
wahrgenommen, sich an die Spitze zu stellen, und haben dabei die weniger günstige
Lage der Mehrzahl ihrer Mitmenschen als Steigbügel benutzt. Diese haben
die Macht ihrer Führer, wissentlich oder unwissentlich, lange Zeit
zugelassen und gestützt. Die Führer aber missbrauchten dieses Zutrauen
dazu, dass sie die ungebildeten Massen mit der Theorie von göttlicher
Berufung bürgerlicher und kirchlicher Gewalthaber, vom Gottesgnadentum
der Kön., betrogen, und um diese Theorie, die ihren Absichten so
trefflich diente, dauerhaft zu machen, haben sie jahrhundertlang
Unwissenheit und Aberglauben unter den breiten Massen gehegt und gepflegt.
Erst in neuerer Zeit sind Schulbildung und Kenntnisse Gemeingut geworden,
allein Kön. und Kirchenfürsten haben daran kein Verdienst; die Vorsehung
selbst hat durch zwingende Umstände dazu geführt. Durch die Erfindung
der Buchdruckerpresse und Dampfkraft entstanden diese zwingenden Umstände.
Vorher war die Mehrzahl der Menschen gar nicht imstande, voneinander zu
lernen, miteinander zu verkehren; sie lernten nicht mehr, als sie aus
eigener Erfahrung lernten, und konnten dies auch nicht eher, bis Gott eine
Zeit größerer Erkenntnis kommen ließ. Diese Mittel haben eine mächtige
Zunahme des gesellschaftlichen, des Reise- und Geschäftsverkehrs
herbeigeführt, so dass alle, ohne Rücksicht auf ihren Stand oder Wohnort,
aus den Erfahrungen der anderen auf der ganzen Welt Vorteil ziehen können.
Jetzt
bildet den größten Teil der Menschheit das lesende, reisende und
denkende Publikum, und nun ist es auch das unzufriedene und lärmende
Publikum geworden, das keinen Respekt mehr hat vor Königen und Gewaltigen,
welche sich über Aufrechterhaltung der alten Ordnung untereinander verständigt
haben, unter der es jetzt so unausgesetzt zu leiden hat. In Russland merkt
man wohl, dass der Zug nach allgemeiner Aufklärung der großen Masse die
herrschenden Gewalten bedroht und ihrem Bestand gefährlich ist. Darum hat
sich auch der Minister des Inneren vorgenommen, zur Bekämpfung des
Nihilismus der höheren Bildung aller derer vorzubeugen, die den ärmeren
Klassen angehören, indem er 1887 verfügte, dass Gymnasien und
Hochschulen den Kindern von Dienstboten, Bauern, Krämern, Pächtern und
dergl. verschlossen bleiben sollten, weil es nicht gut sei, dass diese
Kinder aus den Verhältnissen, denen sie angehören, herausgerissen und,
wie die Erfahrung lehrt, mit ihrem Lose unzufrieden gemacht und mit Zorn
gegen die unvermeidlichen Ungleichheiten in den gesellschaftlichen
Stellungen erfüllt würden.
Aber
in unseren Tagen können solche Maßregeln keinen dauernden Erfolg mehr
haben, selbst in Russland nicht. Das war die Politik des Papsttums in den
Tagen seiner Macht. Aber was jene hinterlistige Gewalt jetzt zu
verwirklichen sucht, wird ihr nicht gelingen, und sie wird selbst den
Schaden von ihren Versuchen haben. Licht ist in den Köpfen der Menge
aufgedämmert, so dass sie sich mit der Finsternis nicht mehr zufrieden
gibt. Die Zunahme und Verbreitung der Kenntnisse führte zur Forderung der
republikanischen Staatsform, und die noch bestehenden Monarchien haben
derselben auf Verlangen der Völker viele Zugeständnisse machen müssen.
Im heraufdämmernden Lichte des neuen Tages haben die Menschen erkennen
gelernt, dass unter dem Schutze unbegründeter Ansprüche, gegen die die Völker
sich früher, im Zustand der Unwissenheit, nicht erhoben, die herrschenden
Klassen die natürlichen Rechte und Vorzüge aller übrigen Menschen zu
selbstsüchtigen Zwecken verkauft haben. Die Ansprüche der herrschenden
Klassen nun einer Untersuchung unterwerfend und ihre Berechtigung abwägend,
haben sie, ungeachtet ihrer kläglichen Entschuldigungsversuche, bald ihre
eigenen Schlüsse daraus gezogen. Aber da ihre Beweggründe um kein Haar
besser, der Wahrheit und Gerechtigkeit näher sind als die der
herrschenden Klassen, so ist das Gericht, das sie herbeiführen, eben
soweit von Recht und Gerechtigkeit entfernt, als der Zustand, über den
das Gericht ergeht. Denn ihre Tendenz geht dahin, jede gesetzliche Ordnung
zu verschmähen, statt kühl und leidenschaftslos die Forderungen der
Gerechtigkeit auf allen Gebieten im Lichte des Wortes Gottes in Erwägung
zu ziehen.
Immerhin
hat die Betrachtung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung,
vertreten durch bürgerliche und kirchliche Machthaber -das Abwägen
Babylons, der Namenchristenheit - im Licht der öffentlichen Meinung, die
Grundlosigkeit und Verwerflichkeit ihrer vielfach ungeheuerlichen Ansprüche
und die schweren Anklagen, die sich gegen sie erheben, erkennen lassen.
Die Selbstsucht und das Nichtübereinstimmen mit der goldenen Regel
Christi, auf dessen Namen und Autorität sie sich berufen, haben die
Wagschale schon so hoch steigen lassen, dass die Welt kaum mehr aufgelegt
ist, auf weitere Beweise des wahrhaft widerchristlichen Charakters der
Namenchristenheit zu warten. Dennoch aber muntern deren Repräsentanten
die Welt auf, dass sie den Glanz ihrer Reiche, die Triumphe ihrer Waffen,
die Pracht ihrer Städte und öffentlichen Gebäude, den hohen Wert und
die Festigkeit ihrer Institutionen, der bürgerlichen wie der kirchlichen,
bewundern soll. Sie bemühen sich, den Geist vergangener Zeit, den Geist
des blinden Patriotismus und Aberglaubens, neu zu erwecken, der sich früher
unterwürfig und betend vor denen beugte, die gerade in Amt und Würden
standen, der die Leute fröhlich: „Es lebe der König!“ rufen und
respektvoll zu jenen Personen empor sehen ließ, welche als Statthalter
Gottes gelten wollten. Doch umsonst! Jene Zeit ist vorbei. Die Überreste
der früheren Unwissenheit, des früheren Aberglaubens sind verschwunden,
und mit ihnen auch die Gefühle von blindem Patriotismus und blind religiöser
Verehrung, und an deren Stelle sind Unabhängigkeitsdrang, Argwohn und
Misstrauen getreten, welche binnen kurzem zu einem die Welt umfassenden
Konflikt, zur Anarchie zu führen versprechen. Zornig und drohend sprechen
in den verschiedenen Staatsschiffen die Völker zu ihren Kapitänen und
Steuerleuten, und bisweilen meutern sie geradezu. Sie behaupten, dass die
Politik der gegenwärtigen Machthaber darauf hinausläuft, die Völker auf
die Sklavenmärkte der Zukunft zu bringen, der Völker sämtliche natürliche
Rechte zu verkaufen und die Völker in die Leibeigenschaft zurückzuzwingen,
in der ihre Väter standen. Und viele verlangen immer lauter und lauter
die Absetzung der Kapitäne und Steuerleute und wollen, dass man den
Schiffen ihren Lauf lasse, bis sie unter sich ausgemacht haben, wer an die
Stelle der Abgesetzten zu treten habe. Diesem wilden und gefährlichen
Treiben gegenüber klammern sich Kapitäne und Steuerleute, die Kön. und
anderen Staatsoberhäupter an ihre machtvolle Stellung und rufen den Völkern
zu: „Hände weg, ihr werdet das Schiff auf Klippen auffahren lassen!“
Dann kommen die Vertreter der Religion und raten dem Volk zur Unterwürfigkeit;
sie berufen sich dabei auf ihre angeblich von Gott verliehene Autorität,
um ihrem Rat mehr Gewicht zu verleihen, und unterstützen so die bürgerliche
Gewalt in ihrem Bestreben, die Völker niederzuhalten. Doch werden sie
dabei gewahr, dass es auch mit ihrer Macht aus ist, und sie sehen sich
daher im Geiste nach neuen Stützen um. So reden sie untereinander von
Zusammenschluss und Zusammenwirken und suchen die Unterstützung der
Staatsgewalt, ihr als Gegendienst die Unterstützung der bürgerlichen
Ordnung durch ihren (schwindenden!) Einfluss zusichernd. Doch während der
Sturm sich ankündigt, und die Massen, die Gefahr nicht bemerkend, zu
murren fortfahren, entfällt denen, die auf den Masten und Rahen stehen
und die drohenden Anzeichen sehen, das Herz. Die kirchlichen Gewalten aber
fühlen, dass sie nun bald zur Rechenschaft gezogen werden. So sind sie
denn bestrebt, sich im günstigsten Lichte darzustellen und dadurch, wenn
möglich, die revolutionäre, ihnen feindliche Strömung im Publikum
einzudämmen. Wenn sie aber als Milderungsgrund die guten Wirkungen ihres
Einflusses in vergangenen Zeiten geltend machen wollen, so machen sie ihre
eigene Verwirrung und Verlegenheit nur deutlicher und lenken die
Aufmerksamkeit auf den wahren Stand der Dinge. Solche
Selbstrechtfertigungen erscheinen fortwährend in weltlichen und religiösen
Blättern. Im schneidenden Gegensatz dazu steht dann die schonungslose
Kritik, welche die Welt in weitestem Maße an den bürgerlichen und
kirchlichen Gewalten in der Namenchristenheit übt. Hievon nur einige
Beispiele.
Die
New Yorker „Abendpost“ schreibt:
„Unter
den befremdlichen Glaubensartikeln ist sicher der befremdlichste der, dass
Gott, der Allmächtige, mit großer Sorgfalt einige sehr gewöhnliche
Glieder der Menschheit, oft gar kranke, dumme oder lasterhafte, auserwählt
und ihnen das Regiment großer Völker unter seinem speziellen Schutz
anvertraut habe, als wären sie seine Stellvertreter auf Erden. Es besteht
kein Thron in Europa, auf dem nicht die Sünden des Vaters am Sohne
heimgesucht würden, und eine Generation oder zwei weiter wird es wohl
weder Bourbonen noch Habsburger, noch Romanow, noch Welfen mehr geben, die
die Welt ärgern und doch regieren. Blaues Blut von der Sorte kann 1900
auf keine Auszeichnung rechnen. Es schafft sich selbst für alle
Berechnungen der Zukunft beiseite.“
Ein
anderer in der Tagespresse tätiger Publizist hat einmal eine
Kostenberechnung für das englische Königshaus aufgestellt und fand einen
Gesamtaufwand von 29.583.974 Pfd. Sterling oder rund 590.000.000 Mark, für
den die britische Nation von 1837-1888 aufzukommen hatte. Dazu bemerkt er:
„Ist
die Pfeife nicht zu teuer bezahlt? Es kommt einer Prämie für den
Stillstand gleich, denn es bedeutet, dass die Steuerkraft des Volkes in
Anspruch genommen wird, um einer Anzahl von Personen ein müßiges Dasein
zu ermöglichen, welche dem Lande mehr nützen würden, wenn sie redlich
ihren Lebensunterhalt verdienten.“
Die
Krönungsfeier für den gegenwärtigen Zaren Nikolaus II. war wiederum
eine Illustration zu den Extravaganzen, welche die Monarchen für
notwendig halten, um den Volksmassen die Idee beizubringen, dass die
Regenten so hoch über ihnen stehen, dass ihnen Verehrung als höheren
Wesen gebührt und unterwürfigster Gehorsam geschuldet werden müsse.
Jene große Schaustellung kaiserlicher Macht soll 100 Millionen Mark
gekostet haben. Der Gegensatz, in dem dieser Luxus zu der verzweifelten
Lage der Millionen von Bauern steht, über deren Elend die ganze Welt im
Hungerjahre 1893 auf dem Laufenden gehalten worden ist, hat dem Londoner
„Spectator“ folgendes in die Feder diktiert:
„Es
ist schwer, die Schlussrechnung über die Krönungsfeier in Moskau, welche
sich liest, als wäre sie wert, in goldenen Lettern auf purpurne Seide
gedruckt zu werden, zu studieren, ohne dass einem das Gefühl des Ekels
aufsteigt, besonders wenn man gleichzeitig die Berichte über die
Armenier-Massaker liest, welche die Russen, obwohl sie es vermocht hätten,
nicht verhindert haben. Wir können uns, mit einiger Anstrengung unserer
Phantasie, die wundervollen Szenen in Moskau vorstellen, die Kunstwerke
asiatischer Architektur, die blitzenden Kuppeln, auf den Straßen die
prunkvollen europäischen und die noch prunkvolleren asiatischen Uniformen,
weiße Fürsten in rot, gelbe Fürsten in blau, braune Fürsten in Gold,
die Gewalthaber aus dem fernen Osten, den chinesischen Bismarck und den
braunen japanischen General, der jenen gedemütigt, Schulter an Schulter
mit Angehörigen aller Fürstenhäuser Europas, Vertreter aller Kirchen,
die Mormonen ausgenommen, aller Völker, die dem Zaren untertan sind - es
sind deren, glaube ich, achtzig - aller Armeen des Westens; dazu ungezählte
Regimenter in den verschiedensten Uniformen und Millionen einfacher Leute,
die nur halb Europäer und halb Asiaten, aber von Begeisterung und
Ergebung ihrem irdischen Herrn gegenüber erfüllt sind. Wir können uns
das Brausen der endlosen Volksmassen vorstellen, die Chorgesänge der Mönchsscharen,
die Artilleriesalven, die von Ort zu Ort sich wiederholend im ganzen
Norden unserer Hemisphäre, von Riga bis Wladiwostok, es jedermann im
gleichen Augenblick verkünden, dass der Zar sich die Krone aufsetzt. Der
Engländer liest das alles wie etwa ein Gedicht von Moore und findet es
gleichzeitig großartig und krankhaft. Ist das nicht zu großartig für
wahre Größe? Gehört das nicht eher auf die Bühne als ins wirkliche
Leben? Ist es denn recht, in einem Reiche wie Russland, wo die Unglücklichen
nach Millionen zählen, solche riesigen Ausgaben zu machen, nur um den
Glanz der Purpurs heller strahlen zu lassen? Fünf Millionen Pfund für
ein Fest! Gibt es eine annehmbare Rechtfertigung für eine derartige
Verschwendung? Ist das nicht die Vergeudung eines Belsazar, eine
Schaustellung wahnsinnigen Hochmuts, ein Hinauswerfen von Schätzen, wie
es etwa bei orientalischen Fürsten üblich ist, wenn sie ihrem blasierten
Herzen einmal das Gefühl des Ruhmes gönnen wollen? Nichts könnte einen
Engländer bestimmen, eine solche Summe für einen derartigen Zweck zu
bewilligen, und doch könnte sich England eine solche Ausgabe zehnmal
besser leisten als Russland.“
Die
Tatsache, dass die Regenten in den sogenannten christlichen Reichen aller
wahrhaft christlichen Gefühle und sogar des rein menschlichen Erbarmens
bar sind, wird durch ihr Verhalten in der armenischen Frage in vollem
Umfange bestätigt. Sie, die Geld mit vollen Händen hinauswerfen zum
Unterhalt des Königtums, seines eitlen Glanzes und Scheines, die über
Millionen von Soldaten zu Land und zu Wasser und eine staunenserregende
Ausrüstung zum Krieg verfügen, haben kein Ohr für die verzweifelten
Hilferufe der armen armenischen Christen, welche von den Türken zu
Zehntausenden gemartert und hingemordet werden. Die prächtigen Armeen
sind also nicht für das Wohl der Menschheit bestimmt, sondern für die
selbstsüchtigen Zwecke der politischen und finanziellen Machthaber in der
Welt, zur Wegnahme von Ländern, zum Schutze der Interessen der Staatsgläubiger.
Mit diesen Armeen wollen sich die Machthaber gleichsam bei der Gurgel
packen können, wenn sich Gelegenheit bietet, ihr Gebiet zu erweitern oder
Reichtümer an sich zu reißen.
In
schneidendem Gegensatz zu der Verschwendung in allen monarchisch regierten
Ländern zugunsten der Hofhaltung steht die ungeheuere Verschuldung der
europäischen Staaten:
„Geldmangel“,
sagt der „London-Telegraph“, „heißt die dunkle Gewitterwolke,
welche alle europäischen Staaten bedroht. Die Zeiten sind überhaupt
schlecht für die Mächte, am allerschlechtesten aber für die kleinen
Staaten. Gründliche Berichte über die Finanzlage zeigen, dass die
Mehrzahl der Finanzministerien Mühe haben, die Einnahmen mit den Ausgaben
in Einklang zu bringen, eine Erscheinung, die noch nie so allgemein war,
jetzt aber auf der ganzen Welt beobachtet wird. Sehen wir über unseren
Kontinent hinaus, so bemerken wir, dass die Vereinigten Staaten, Indien,
Japan und andere an derselben Misere leiden. Die große Republik der
Vereinigten Staaten ist fast zu ausgedehnt und zu reich, um an einer
Finanzklemme zugrunde zu gehen; gleichwohl ist sie sehr krank. Auch Großbritannien
sieht sich demnächst vor ein Budgetdefizit gestellt, und der wahnsinnige
Kohlenstreik hat ihm schweren vielleicht nicht wieder gut zu machenden
Schaden zugefügt. Auch Frankreich kann man sich, so wenig als Großbritannien
oder die Vereinigten Staaten von Nordamerika, nicht gut zahlungsunfähig
denken, weil sein Boden so fruchtbar, seine Bevölkerung so arbeitsam ist;
gleichwohl hat seine Staatsschuld eine schreckliche Höhe erreicht - dazu
lasten die Ausgaben für Armee und Marine schwer auf dem Gewerbefleiß des
Volkes. Deutschland gehört ebenfalls in die Kategorie der Staaten, welche
zu fest und stark dastehen, um in mehr als vorübergehende Verlegenheit zu
geraten; gleichwohl hat man im vergangenen Jahre einen Verlust von 500
Millionen Mark nachgerechnet, was der Hälfte des Staatsvermögens
gleichkommt. Ein großer Teil dieser Verluste ist auf Anlagen in Portugal,
Griechenland, den südamerikanischen Republiken, Mexiko, Italien und
Serbien erlitten worden. Gleichzeitig hatte Deutschland durch die
Schwankungen auf dem Silbermarkt schwer zu leiden. Und dabei wälzt der
bewaffnete Friede dem Volk erdrückende Lasten auf die Schultern! Am
meisten Sicherheit unter den naturgemäß zahlungsfähigen Staaten weist
immer noch Österreich-Ungarn auf.
„Nun
kommen die von Insolvenz bedrohten Staaten. Da ist zunächst Italien, das
sich an seiner Großmachtstellung beinahe verblutet. Jahr um Jahr gehen
seine Einkünfte zurück und nehmen seine Ausgaben zu. Vor 6 Jahren war
sein Außenhandel noch 2080 Millionen Mark wert, jetzt ist er auf 1680
Millionen herabgegangen. Zur Verzinsung seiner Staatsschuld bedarf es
nicht weniger als 600 Millionen, wobei das Goldagio nicht einmal berechnet
ist. Seine Obligationen sind unverkäufliche Ware; seine maßlose
Banknotenemission hat das Hartgeldagio auf eine unglaubliche Höhe
getrieben. Seine Bevölkerung befindet sich in so großer Armut, so
schrecklicher Mittellosigkeit, dass man hier (in England) davon keinen
Begriff hat, und wenn eine neue Regierung neue Steuern einführt, so
antwortet das Volk mit Aufläufen, die blutig niedergeworfen werden müssen.
„Das
Finanzwesen Russlands ist in so undurchdringliches Dunkel gehüllt, dass
man nichts Sicheres darüber wissen kann; aber es ist kaum zu bezweifeln,
dass einzig die Größe des Zarenreiches es vor dem Bankbruch bewahrt. Aus
der Industrie ist auch der letzte Tropfen Lebenssaft herausgepresst worden.
Selbst der rücksichts- und erbarmungsloseste Finanzminister wagt es kaum,
die Steuerschraube weiter anzuziehen, eine maßvolle und gewissenhafte
Autorität schildert die Zustände Russlands wie folgt: „Jede Kopeke,
die der Bauer zu verdienen sich abmüht, muss zur Zahlung von Steuerrückständen
und kann nicht zum Unterhalt des eigenen Besitzes verwendet werden. Was
der Bauer als Steuer zahlt, entspricht zwei Dritteln bis drei Vierteln des
Bruttoertrages des Bodens, wobei noch derjenige mitberechnet ist, den er
als Tagelöhner auf fremdem Boden fördert.“ Der Kredit der Regierung
wird durch künstliche Mittel aufrecht erhalten. Leute, die die Zustände
aus der nächsten Nähe beobachten können, erwarten nicht nur einen
sozialen, sondern auch einen finanziellen Krach. Auch die Last des
bewaffneten Friedens liegt lähmend auf Handel und Gewerbe.
„Portugal
können wir bei dieser Umschau auf der Seite lassen, denn wenn auch das
einst berühmte Königreich heute bankbrüchig ist, so ist doch seine
missliche Lage nicht die Folge von Sucht nach Kriegsruhm oder von
unbedachten Ausgaben. An Griechenland hingegen, das zwar mit seinen zwei
Millionen Einwohnern unter den Mächten kaum zählt, haben wir ein
frappantes Beispiel dafür, wie schnell unvernünftiger Aufwand und
hochfliegende Pläne den Ruin eines Volkes herbeiführen. Die „große
Idee“ war der Leitstern des kleinen Landes und hat es schließlich genötigt,
sich seiner Schuld auf die unehrenhafteste Weise zu entledigen, wobei der
Protest Europas nur von beschränkter Wirkung war. Die für Heer und
Flotte verwendeten Summen hätten ebenso gut ins Meer geworfen werden können.
Die Politik hat sich in Griechenland zu einer Seuche ausgewachsen, von der
selbst seine besten und tüchtigsten Elemente ergriffen wurden. Ein gewöhnliches
Volk, das sich für die Arbeit zu gebildet vorkommt, mehr Studenten als
Bauarbeiter, öffentliche und Privatschulden, an deren Zahlung niemand
denkt, Heer und Flotte in einem wahrhaft beschämenden Zustand, trotzdem
sie ungezählte Tausende kostete, Unehrenhaftigkeit der Grundzug aller
Politik, geheime Absichten, die entweder neue Anleihen oder eine unlautere
und gefährliche Geschäftsverbindung mit Russland nötig machen werden -
das sind die Charakterzüge des modernen Griechenland.
„Dieser
Rundgang durch die Kontinente hat als Resultat unleugbar ergeben, dass die
Aussichten für die Wohlfahrt der Völker und die Bilanz der
Staatsrechnungen sehr trübe sind. Freilich ist eine der hauptsächlichsten
und sichtlichsten Ursachen dafür der bewaffnete Friede, der wie ein Alp
auf Europa lastet und den ganzen Kontinent in ein ständiges Feldlager
verwandelt hat. Man sehe sich nur das ernste und verständige Deutsche
Reich an! Das Kriegsbudget, das 1880 noch 350 Millionen Mark war, ist 1893
auf 570 Millionen gestiegen, und unter dem neuen Reichswehrgesetz sind jährlich
weitere 60 Millionen dazugekommen. Und Frankreich hat nichts Eiligeres zu
tun, als es seinem mächtigen Rivalen gleichzumachen und war dadurch zu
den krampfhaftesten Anstrengungen genötigt.
„Man
braucht nicht erst zu betonen, welch wichtigen Anteil diese Rüstungen an
der gegenwärtigen verzweifelten Lage der Völker Europas haben. Nicht nur
entziehen dieselben dem Erwerb der Nationen die kolossalen Summen, von
welchen Munition gekauft und Festungen gebaut werden, sondern sie
entziehen auch der Industrie Millionen junger Arbeiter in den besten
Jahren, die während der Zeit ihres Dienstes für die Familie und die
Verstärkung der Bevölkerung verloren sind. Die Welt hat noch kein
besseres Verkaufslokal für Schuldscheine von Volk zu Volk erfunden als
den schrecklichen und kostspieligen Janustempel.“
Alles
in allem beläuft sich der Aufwand, den Europa mit seinen Armeen und
Flotten, seinen Garnisonen treibt, wenn man den Entzug von Produktivkräften,
den die Industrie erleidet, mitrechnet, auf jährlich sechs Milliarden
Mark - für verschuldete und von finanziellen Schwierigkeiten bedrohte
Staaten eine schwere Last. Dazu sind noch die 2.188.800 Menschenleben zu
rechnen, welche die Kriege in den 25 Jahren von 1855-1880 gekostet haben,
und das unter Schrecknissen, die jeder Beschreibung spotten. So schreibt
C. Dickens mit vollem Recht:
„Wir
sprechen mit Begeisterung, mit einem gewissen Feuer, von einem prächtigen
Angriff, von einem glänzenden Angriff, aber die wenigsten denken an die
greulichen Dinge, welche sich hinter diesen hohlen Worten verbergen. Der
„glänzende Angriff“ ist das Durchbrausen einer Kolonie von Reitern
auf Pferden, die zu ihrem schnellen Galopp angefeuert sind und alles vor
sich nieder reiten sollen. Hier bleibt des Lesers Gedanke stehen; er ist
zufrieden, dass die feindliche Linie durchbrochen worden ist. Das ist aber
nicht sehr anschaulich. Der Leser möge daher einen Augenblick mit mir bei
dem „glänzenden Angriff“ verharren. Wenn derselbe seine Wirkung getan
hat und glücklich vorbei ist, so bietet sich uns ein Bild ungefähr wie
nach einem schrecklichen Eisenbahnunglück: entzwei gebrochene Rümpfe,
verrenkte Arme, an ihren eigenen Bajonetten aufgespießte Leute, wie
Brennholz zersplitterte Beine, von den Hufeisen der Pferde wie Äpfel
entzweigespaltene oder zu Brei zertretene Köpfe, bis zur Unkenntlichkeit
zerstampfte Angesichter. Das alles verbirgt sich hinter dem „glänzenden
Angriff“; so kommt es heraus, wenn „unsere Leute regelmäßig
chargiert“ und sich durch Besiegung des Feindes mit Ruhm bedeckt haben.“
- Ein anderer moderner Schriftsteller schreibt: „Da gehen Millionen
Arbeiter in ganz Europa Tag für Tag an die Arbeit und harren vom frühen
Morgen bis zum späten Abend dabei aus, sei es dass sie dem Boden seine
Erzeugnisse abgewinnen, dass sie die Produkte der Fabrik herstellen, dass
sie den Austausch der Bedarfsartikel besorgen, sei es dass sie in
Bergwerken, Kaufhäusern, Stahlwerken, Lagerhäusern, Werkstätten, Kaufläden,
bei der Eisenbahn, Schifffahrt auf Flüssen, Seen und Meeren beschäftigt
sind, dass sie in die Eingeweide der Erde dringen, die rohe Materie
brauchbar gestalten, die Naturkräfte bewältigen; sie alle werden damit
Diener am Wohl und an der Bequemlichkeit der Menschheit und bringen dabei
eine Menge Werte hervor, welche für reichliches Auskommen und
Annehmlichkeiten in einem jeden Haushalt genügen würden; und nun greift
eine mächtige Hand in dies alles und nimmt etwa 6.000 Millionen jährlich
von den meisten erarbeiteten Werten weg und schleudert sie in den
nimmersatten Rachen des Militärmolochs.“ - Im „Harrisburger Telegramm“
lesen wir diesbezüglich: „Es kostet die „christlichen“ Völker
Europas ein hübsches Stück Geld zu zeigen, wie sie das „Friede auf
Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ verstehen; das heißt es
kostet sie ein hübsches Stück Geld, jederzeit bereit zu sein, einander
zu vernichten.“
In
einem Brief an den französischen Deputierten F. Passy schrieb das nun
verstorbene Parlamentsmitglied John Bright:
„Gegenwärtig
werden alle Mittel Europas vom Militärmoloch verschlungen. Die wahren
Interessen der Völker werden den elendesten und verbrecherischsten
Liebhabereien der auswärtigen Politik geopfert; sie werden mit Füßen
getreten, falschen Begriffen von Ruhm und Nationalehre zuliebe. Ich kann
mich des Gedankens nicht verwehren, dass Europa einer großen Katastrophe
entgegengeht, unter deren Wucht es zusammenbrechen wird. Der Militarismus
wird auf die Länge die Geduld der Völker erschöpfen und diese zur
Verzweiflung treiben, so dass sie, vielleicht in nicht zu ferner Zeit, Königen
und Regenten, die sich den Namen „Staatsmänner“ anmaßen, wenn sie im
Auftrag der Völker regieren, stürzen.“
So
ist denn das Gericht über die bürgerlichen Gewalten im Herannahen. Nicht
nur die Presse spricht so, sondern die Massen selber protestieren laut
gegen die bestehenden Gewalten. Die Unruhe ist allgemein und wird mit
jedem Jahre gefährlicher.
Wie
die bürgerlichen Gewalten, so ist auch die gesellschaftliche Organisation
in der Namenchristenheit nunmehr einer Prüfung unterzogen, ihre ganze
Finanzwirtschaft sowie die Frucht derselben, die egoistische Profitpolitik,
die Unterscheidung der Klassen nach dem Portemonnaie mit aller
Ungerechtigkeit und Härte, die diese Unterscheidung für die Großzahl
der Menschen mit sich bringt. Darüber wird die Gegenwart nicht minder
energisch zur Rechenschaft gezogen als wegen ihrer Staatsinstitutionen.
Man beachte nur die endlosen Streitereien über den Silberwert und die
Goldwährung, die stets erneuten Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit. Wie
das Brausen erregter Meereswogen tönt das Murren unzählbarer Scharen über
das gegenwärtige Gesellschaftssystem, besonders soweit man die
Unvereinbarkeit desselben mit den sittlichen Grundsätzen der Bibel
erkennt, deren Autorität anzuerkennen und deren Lehren im allgemeinen zu
befolgen sich doch die Namenchristenheit rühmt. Es ist eine
beachtenswerte Tatsache, dass selbst die Welt bei ihrem Urteil über die
Namenchristenheit sich das Wort Gottes als Richtschnur nimmt. Die Heiden
heben die Bibel hoch und erklären keck: „Ihr seid nicht so gut wie euer
Buch!“ Sie deuten auf Christum hin und sagen: „Ihr wandelt nicht in
den Wegen dessen, nach dessen Namen ihr euch nennt!“ Die Heiden und die
Massen in der Namenchristenheit greifen die goldene Regel, das Gebot der
Liebe auf, und beurteilen danach die Lehren, Verhältnisse, das Verfahren
und Verhalten der Namenchristenheit, und alle bezeugen es, wie die
geheimnisvolle Inschrift im Festsaale zu Babylon: Gewogen, gewogen, und zu
leicht erfunden.
Das
Zeugnis der Welt gegen die dermalige Gesellschaftsordnung wird in jedem
Lande vernommen. Jedermann bezeichnet dieselbe als verkehrt, und die
Opposition, die sich dagegen erhebt, ist immer tätiger und verbreitet
Furcht über die ganze Welt, indem sie das Vertrauen in alles Bestehende
erschüttert und die Industrie immer von neuem durch Lohnbewegungen, Börsenpaniken
usw. lähmt. Es gibt in der ganzen Namenchristenheit kein Volk, bei dem
nicht gegen die Gesellschaftsordnung protestiert wird, das nicht hartnäckig
und stets mehr durch diesen Protest geängstigt wird. Man höre Carlyle:
„Die
Existenz des englischen Industriearbeiters wird bald derjenigen in einem
endlosen Sumpf gleichen, aus dem verpestete Dünste aufsteigen, eine Stätte,
da Tausende lebendig begraben werden. Dreißigtausend Näherinnen arbeiten
sich schnell zu Tode; drei Millionen Arme, die in gezwungener Muße
dahinsiechen, helfen ihnen sterben. Das sind nur Einzelheiten aus dem großen
Hauptbuch der Verzweiflung.“
Im
„Jungen Mann“ lesen wir unter dem Titel „Wird die Welt besser?“
folgende Stelle:
„Starke
Männer, zu jeder ehrbaren Arbeit bereit, leiden Hunger und mancherlei
Not, und oft drückt sie noch der Kummer, den ihnen der Mangel in ihrem
Haushalt verursacht. Auf der anderen Seite stehen Reichtum und Überfluss,
oft im Bunde mit Geiz und Unsittlichkeit, und während der Arme gleichsam
Zoll um Zoll dahinstirbt, weiß der Reiche meistenteils nichts von den
Leiden seiner Brüder und sorgt nur dafür, dass der arme Lazarus sich
nicht gar zu sehr hervorwage und störe. Tausende von jungen Männern führen
in vollgepfropften Lokalen und hässlichen Warenhäusern das Dasein von
Sklaven; sie arbeiten 70-80 Stunden die Woche, ohne dass körperliche oder
geistige Erholung das Einerlei ihrer Existenz unterbräche. Im Ostend nähen
Frauen Schürzen oder machen Kartonschachteln um einen Lohn, der nicht
hinreicht, um sich ein Bett, geschweige denn ein eigenes Zimmer zu mieten;
sie haben die Wahl, Hungers zu sterben oder vom Laster zu leben. Im
Westend dagegen sind ganze Straßen im Besitze geschminkter Dirnen, von
denen eine jede ein lebender Vorwurf ist für das schwache und schlechte Männergeschlecht.
Von den jungen Männern dagegen bringen sich viele selbst ins Gefängnis
oder trinken sich frühzeitig zu Tode, und gleichwohl ist jedes „anständige“
Blatt voll von Berichten über Wettrennen, und christliche (?) Regierungen
lassen den Betrieb öffentlicher Wirtschaften an jeder Straßenecke zu. Ja,
es wird jedem das Sündigen leicht gemacht; selbst das Laster sinkt im
Preis, Betrug herrscht vor im Verkehr, Härte in der Politik, Gleichgültigkeit
in der Religion.“
Vor
einiger Zeit schrieb die „Philadelphia Presse“:
„Gefahr
im Anzug! Es besteht kein Zweifel darüber, dass New York in zwei große
Klassen gespalten ist, die der sehr Reichen und die der sehr Armen. Der
Mittelstand, ehrbare, fleißige, arbeitsstolze Leute umfassend, ist am
Verschwinden; die einen erheben sich zur Klasse der Vermögenden, die
anderen verfallen der Armut und Not. Zwischen beiden Klassen greift ein
deutlich zutage tretender Hass Platz, der, von böswilligen Leuten geschürt,
stets und schnell wächst. Es gibt Leute in der Stadt, von denen man es
nicht glauben sollte, die 10-20 Millionen Dollar besitzen. Ich kenne eine
Frau, die in einem prachtvollen Hause wohnt, und deren Leben so ruhig
dahinfließt wie dasjenige eines Pfarrherrn; sie hat in 5 Jahren nicht
weniger als 3 Millionen Dollar weggegeben und wird noch zu Lebzeiten
weitere Millionen für wohltätige Zwecke opfern. Dabei hat sie zu Hause
Gemälde und Statuen, Diamanten und andere Edelsteine, herrliches Gold-
und Silbergeschirr, dazu Kunstwerke der verschiedensten Art, kurz ein
Inventar, das auf 1 1/2 Millionen geschätzt ist; und doch ist sie noch um
mehrere Millionen weniger reich als manche ihrer Nachbarn. Es gibt Leute
in unserer Stadt, die vor 20 Jahren noch Kleider verkauften in der
Chatham-Straße, und die heute auf einem Fuße leben, der einen
Jahresaufwand von 100.000 Dollar kostet, und Kleinodien mit sich
herumtragen, die 25.000 Dollar wert sind. Kommen Sie mit mir zu einer
Wagenfahrt in der Madison Avenue: da will ich Ihnen jeden Tag, ob
Sonnenschein, ob Regen, gegen 10 Uhr vormittags und 5 oder 6 Uhr abends
ganze Reihen von Equipagen zeigen, in denen Damen sitzen, deren Ohrringe
500-5.000 Dollar wert sind, an deren roten, aufgedunsenen Händen Ringe
blitzen, die einem Vermögen gleichkommen. Machen Sie einen Spaziergang
mit mir, zwischen Stewarts altem Warenhaus an der Kreuzung der neunten
Straße mit dem Broadway, nicht an einem Sonn- oder Feiertag oder sonst
bei besonderer Gelegenheit, sondern zu ganz gewöhnlicher Zeit, und ich
will Ihnen zahllose Gruppen von Frauen zeigen, die von Kopf bis zu Fuß in
Robbenfelle gehüllt sind, für die sie 500-1.000 Dollar bezahlt haben,
von deren Ohren und Fingern Diamantringe oder ähnliche Kleinodien
strahlen, und die dann noch dicke Portemonnaies in der Hand tragen. Diese
geben ein Bild von den Reichgewordenen, mit denen sich New York immer mehr
bevölkert. In derselben Straße aber und zu derselben Zeit kann ich Ihnen
Leute zeigen, für die ein Dollar schon ein Vermögen bedeuten würde,
deren zerrissene, zerlumpte Beinkleider mit einem Strick, einer Schnur
oder mit Stecknadeln an der Taille befestigt sind, die unsicheren Schritts
über das Pflaster wanken, deren bloße Füße in so zerrissenen Schuhen
stecken, dass sie sie nicht vom Pflaster aufheben dürfen, deren
Angesichter voller Flecken, deren Bärte und Haupthaar lang und struppig
sind, deren rotangelaufene Hände in magere Klauen auslaufen. Wie lange
wird es noch dauern, bis diese Klauen die neugebackenen Reichen ergreifen?
Täuschen wir uns nicht. Die Absicht verbreitet sich immer mehr und wird
früher oder später ausgeführt werden. In der letzten Nacht noch kam ich
durch die 14. Straße, in der nur wenige prunkvolle Privathäuser stehen.
Vor einem derselben war von der Haustür bis zum Rande des Fußgängerweges
ein Baldachin errichtet, unter dessen Schutz geschmackvoll gekleidete
Damen in Begleitung ihrer Kavaliere sich vom Wagen ins Haus begaben, aus
dem eine Fülle von Licht strömte und in dem lustige Musik erklang. Ich
stand einen Augenblick in der Menge der Neugierigen, eine drohende Menge
war es, und da kam mir die Überzeugung, dass es unabweislich zu einem
gewaltsamen Ausbruch kommen werde, wenn nicht etwas geschieht, und bald
geschieht, um den Hass zu beseitigen, der zwischen Reich und Arm existiert
und absichtlich noch geschürt wird. Sie würden schaudern, wollte ich
Ihnen erzählen, wie die Weiber redeten. Neid, Eifersucht, zu jedem Greuel
fähige Wildheit, alles, was zu einem Ausbruch von Gewalttätigkeit nötig
ist, war in diesem Haufen vertreten, alles, mit Ausnahme des Führers.“
Ja!
Furchtbare Gegensätze weist die Welt auf. Auf der einen Seite essen
Millionen ihr Sklavenbrot im Schweiße ihres Angesichtes, während ein
ganzes Heer neben ihnen umsonst Verdienst sucht, und ein zweites sich mit
ungenügender Löhnung abspeisen lassen muss; auf der anderen gestattet
riesiger Reichtum Ausschweifungen jeder Art. Als Beispiel diene, was ein
Londoner Journal über Vanderbilts Haushalt schreibt:
„Cornelius
Vanderbilt, der bekannte New Yorker Millionär und Eisenbahnkönig, hat,
wie man uns aus New York meldet, jüngst sein neues Palais mit einem großen
Ball eingeweiht. Dieses bescheidene Heim, welches 10 Personen während 6
Monaten des Jahres Obdach gewährt, die anderen 6 Monate geschlossen
bleibt, steht an der Kreuzung der 57. Straße mit der 5. Avenue. Seine
Herstellung kostet 5 Millionen Dollar. Es ist in spanischem Stile gebaut,
aus grauem Stein mit teilweiser roter Fassade und ebensolchen Türmchen
und Zinnen. Es hat drei Stockwerke und ein hohes Dachgeschoss. Der
Ballsaal, den es aufweist, ist der größte private Saal in New York; er
ist 75 Fuß lang und 50 breit, weiß und golden dekoriert im Stile Ludwigs
XIV. Schon das Täfelwerk allein kostet ein ganz ansehnliches Vermögen,
sein Motiv ist der Doppelkegel, und die Wandmalerei besteht aus Nymphen
und Amoren. Um den Plafond zieht sich eine Girlande hübsch geschnitzter
Blumen, in deren Innern je ein elektrisches Lämpchen glüht. In der Mitte
des Saales hängt ein prachtvoller kristallener Kronleuchter. In der Nacht
des Eröffnungsballes waren die Wände vom Fußboden bis zur Decke mit natürlichen
Blumen bedeckt, welche 5.000 Dollar gekostet hatten; für das Ballvergnügen
selber soll der Gastgeber 25.000 Dollar ausgegeben haben. Vor dem Hause
ist der verhältnismäßig kostspieligste Garten der Welt, denn wiewohl er
nicht größer ist als eine übliche städtische Parzelle, kostete er
350.000 Dollar, wozu noch die Abbruchskosten für ein Haus, das um 125.000
Dollar erstellt worden war, kommen, an dessen Stelle nur ein paar
Gartenbeete sich ausbreiten!“
Die
„Industrie“ in San Francisco knüpfte an einen Bericht über die
Extravaganzen zweier reicher Amerikaner folgendes:
„Das
Diner, das Wanamaker in Paris, und dasjenige, das Vanderbilt in Newport
offeriert hat, kosten zusammen 40.000 Dollar, vielleicht auch noch
bedeutend mehr. Das sind Zeichen der Zeit, die Umwälzungen in unserem
Lande ankündigen. Beispiele, wie diese, wo es auf eine neue großartige
Schaustellung des Reichtums, über den man verfügt, ankommt, könnten
noch zu Hunderten angeführt werden. Sie erinnern an die Feste, die das
alte Rom feierte, bevor es unterging, an die Ausschweifungen in Frankreich,
auf die vor 100 Jahren die Revolution folgte. Die Summe, die jährlich von
Amerikanern in der Fremde für Luxus und schlimmere Zwecke ausgegeben wird,
schätzt man auf ein Drittel des Staatseinkommens der Union.“
Ward
McAllister, ein Führer der New Yorker „Gesellschaft“ taxierte jüngst
in einem Artikel in der „National Review“ den Durchschnittsaufwand
einer Familie in Durchschnittsverhältnissen, bestehend aus Mann, Frau und
drei Kindern, auf 146.945 Dollar, die er folgendermaßen spezifiziert:
„29.000
für den Hauszins in der Stadt, 14.000 für den Hauszins auf dem Lande,
6.000 für den Unterhalt des Landbesitzes, 8.016 für Dienstbotenlöhne,
18.954 für den Haushalt, 10.000 für die Kleider der Gemahlin, 2.000 für
die Garderobe des Hausherrn, 4.500 für Garderobe und Taschengeld der
Kinder, 3.600 für den Unterricht der drei Kinder; Gesellschaften, Bälle,
Diners usw. 13.600: Theater mit Nebenausgaben 5.700; Zeitungen und
illustrierte Zeitschriften 100; Juwelier 1.000; Schreibmaterialien 300; Bücher
500; Geschenke 1.400; Kirchengroschen 300; Vereinsbeiträge 425;
Arztkosten 800; Zahnarztkosten 500; Umzug von der Stadtwohnung in die
Landwohnung und umgekehrt je 125; Reisen in Europa 9.000; Marstall
7.000.“
Chauncey
M. Depew soll einmal gesagt haben:
„50
Männer in den Vereinigten Staaten haben es in ihrer Macht, dank dem
Reichtum, über den sie verfügen, den gesamten Handel und Verkehr
stillstehen zu lassen, jeden Weg, dessen der Handel bedarf, zu sperren,
und jeden Elektromotor zum Stehen zu bringen. Sie können innerhalb 24
Stunden zusammenkommen und sich verständigen; sie können auch die
Zirkulation des Bargeldes beherrschen und jeden Moment eine Panik
hervorrufen.“
Die
an der Kirche geübte Kritik ist mindestens ebenso scharf als die, welche
sich gegen die Herrschaft eines einzelnen oder der oberen Zehntausend
richtet, und insofern ebenso berechtigt, als die Kirche ihre Interessen
mit denen der weltlichen Gewalten verknüpft hat. Wir geben in folgendem
einige Pressestimmen, aus denen die Richtigkeit des Gesagten hervorgeht.
In
einem im November 1873 in der „Nord-Amerika-Revue“ veröffentlichten
Artikel schreibt John Edgarton Raymond:
„Die
christliche Kirche ist von Gefahren umringt. Noch nie ist ihr eine so große
Zahl Feinde gleichzeitig erwachsen. Was gewisse Theologen als weltliche
Macht bezeichnen, ist jetzt stärker als je. Es sind nicht mehr wilde Völker,
abergläubische Philosophen, Priester mythologischer Religionen, die ihr
widerstehen, sondern eine hochentwickelte Kultur, tiefgründigste
Gelehrsamkeit und klarste Erkenntnis der erleuchteten Nationen. Auf der
ganzen Linie stößt sie auf den Widerstand der „weltlichen Macht“,
welche von den höchsten Geistesgaben und Idealen des Menschen repräsentiert
wird. Allein nicht nur außer ihrem Bereich hat sie Feinde; in ihrem Schoß
sind viele, die, wiewohl sie ihr Kleid tragen, ihre Gebote verkündigen
und sie vor der Welt vertreten, bereit sind, ihre Autorität zu verwerfen
und ihr Herrscherrecht anzufechten. Viele, die heute zwar noch vor ihren
Geboten sich beugen, beginnen zu zweifeln, und Zweifel sind der erste
Schritt zu Ungehorsam und Abfall. Die Welt wird nie wissen, wie viele
aufrichtige Seelen im Schoße der Kirche im Geiste seufzen und bekümmert
sind, aus Gewissensgründen aber, und um ihren Brüdern nicht Ärgernis zu
geben, ihren Mund geschlossen, ihre Zähne im Zaume halten. Sie schweigen
aber nicht aus Furcht vor Tadel, denn die Zeit, wo ein freies Wort
Verfolgung zuzog, ist vorbei, und die Unfehlbarkeit der Kirche in Zweifel
zu ziehen, gilt nicht mehr als Kennzeichen des Unglaubens. Sie verlangen
kein neues Evangelium, wohl aber das alte in neuer Deutung. Überall wird
die genauere und wahrheitsgetreue Verkündigung der Lehre des Gründers
der christlichen Religion gefordert. Die Bergpredigt ist vielen die
Quintessenz göttlicher Weisheit. Predigt diese! Predigt diese! rufen Anhänger
der verschiedensten Richtungen allüberall; aber predigt sie nicht nur mit
Worten, sondern auch mit der Tat. Zeigt uns, dass eure Handlungen mit
dieser Predigt übereinstimmen, und wir werden euch glauben. Folgt Christo,
so werden wir euch folgen! Aber gerade hierin widersprechen sich Kirche
und Welt. Jene behauptet, sie verkündige die Gebote Christi, sie predige
das Evangelium, diese aber erwidert: „Nein, ihr verkehrt die Wahrheit in
ihr Gegenteil!“ So lehrt die ungläubige Welt die gläubige Kirche die
wahren Grundlagen der Lehre, die diese verkündigt! Das ist eines der
auffallendsten und bedeutsamsten Zeichen der Zeit, und zudem ist es völlig
neu. Bis jetzt hatte sich die Welt damit begnügt zu sagen: „Arzt, hilf
dir selber!“ nun aber sagt sie: „Arzt, ich will dir die Arznei
verschreiben!“ Als die Armen und Notleidenden, die Bedrängten und von
Sorgen Erdrückten, von denen man verlangt, sie sollen Belohnung im Himmel
erwarten, geweihte Priester und in Gunst stehende Kirchenfürsten in
Purpur und köstlicher Leinwand einhergehen, alle Tage herrlich und in
Freuden leben, trotz Motten, Rost und Dieben Schätze auf Erden sammeln
und ohne Skrupel Gott und dem Mammon dienen sahen, begannen sie an der
Aufrichtigkeit dieser Diener des Herrn zu zweifeln. Sie behaupten, die
ganze Wahrheit wohne nicht unter einem Kirchendach, die Kirche vermöge
nichts, sie könne nicht Ungemach verhüten, Kranke gesund machen,
Hungrige speisen, Nackende kleiden, Tote auferwecken und die Seelen retten,
sie sei mithin keine göttliche Institution, da sie jeder Kraft ermangle.
So blieben sie ihren Altären fern und erklärten, die Unfehlbarkeit der
Kirche, die Wirksamkeit ihrer Vorschriften, die Richtigkeit ihrer
Glaubenssätze leugnen, heiße nicht die Wirksamkeit der Religion leugnen,
ihr Opposition machen, heiße nicht, dem Christentum, sondern der
kirchlichen Auslegung der christlichen Lehre Opposition machen; Achtung
vor der göttlichen Wahrheit sei ganz vereinbar mit tiefster Verachtung
der Kirchlichkeit. Nur für die erhabene Person Christi, der in seinem
Leben auf Erden durch Handauflegen heilte und Leben gab, dessen Lächeln
Heil und Rettung bedeute, hätten sie Verehrung und Liebe, nicht aber für
die Institution, die ihn zu vertreten sich anmaße.
„Die
Kirche denunziert nun diese ihre Ankläger als Ungläubige und fährt
fort, Schätze zu sammeln, Gotteshäuser und Paläste zu bauen, sich mit Fürsten
zu verbrüdern und mit den Mächtigen auf Erden zu verbinden; das hindert
aber nicht, dass die gegen sie auftretenden Kräfte immer zahlreicher und
mächtiger werden. Sie hat eben ihre Obergewalt eingebüßt, mit ihrer
Autorität ist es vorbei. Sie ist nur noch ein Schatten von dem, was sie
war. Sie kann auch ihren Einfluss nicht wiedergewinnen, sie kann zu dem
Throne, auf dem sie einst saß, nicht zurückkehren. Ihre Hoffnung, einst
die Welt zu beherrschen, ist ein eitler Traum; ihr Zepter ist auf immer
zerbrochen. Schon stehen wir in einer Übergangsperiode. Die
Umsturzbewegung unserer Zeit ist allgemein und unwiderstehlich. Die Throne
beginnen zu wanken. Ein Vulkan brodelt unter den Königspalästen, und
wenn die Throne stürzen, wird das Schicksal der Kirche besiegelt sein.
Die Vergangenheit hat Massenerweckungen erlebt, wenn sie auch mehr lokaler
und vorübergehender Natur waren. Auch jetzt steht eine solche bevor, doch
wird sie die ganze Welt umfassen. Der Glaube an Gott und die Liebe zu den
Mitmenschen soll wiederhergestellt werden, dann wird der schöne Traum
allgemeiner Brüderlichkeit zur herrlichen Wirklichkeit geworden sein.
Doch das wird die Reaktion gegen die Willkürherrschaft der Geistlichen,
ein Protest gegen das eitle Formenwesen der Kirche sein.“
In
einer Besprechung des Vorschlages, den die „Katholische Rundschau“ und
andere Blätter machen, es sollte in den Gefängnissen Seelsorge getrieben
werden, sagt eine Zeitung:
„So
ist es recht. Nur würden wir weitergehen. Es soll Unterweisung in den
Lehren der christlichen Religion nicht nur in Gefängnissen erteilt werden,
sondern vorab in den Familien und in den Sonntagsschulen, in der Kirche.
Ein Strafanstaltsgeistlicher sagte einmal, vor zwanzig Jahren hätten sich
unter den Sträflingen nur 5 Prozent befunden, die in einer Sonntagsschule
gewesen seien; jetzt aber bilden die ehemaligen Sonntagsschüler 75
Prozent der Sträflinge oder Untersuchungsgefangenen. Ein anderer
Geistlicher hat in einem Trinkerasyl 80, in einer Anstalt für gefallene Mädchen
100 Prozent ehemaliger Sonntagsschulkinder gefunden. Die Presse bemerkt
daher mit Recht, dass die der Sonntagsschule zugebilligte Bezeichnung „Kinderstube
der Kirche“ ein blutiger Hohn sei.“
Bei
der Besprechung der Frage, ob die Chicagoer Weltausstellung Sonntags geöffnet
sein solle, wurde ganz richtig bemerkt, dass, wenn Böses aus Bösem
resultiere, und Theater und andere Vergnügungslokale in Chicago offen ständen,
kein Amerikaner gezwungen sei hinzugehen. Die Apostel, die ersten Christen
überhaupt, konnten über keine Polizeimacht, über keine römischen
Legionen verfügen, um ihren Anschauungen Geltung zu verschaffen oder gar
ihre Nebenmenschen zu zwingen, frömmer zu sein, als ihnen behagte,
dennoch war es gerade die erste Christenheit, weit entfernt, von der
Staatsgewalt unterstützt zu sein, vielmehr von derselben verfolgt und
geplagt ward, die die Welt eroberte.
Von
dem bangen Staunen, das zu unserer Zeit ob der herrschenden Verwirrung
viele kirchliche wie weltliche Leute befallen hat, gab die „New York
Sun“ kürzlich folgendes Zeugnis:
„Die
Frage: Wo stehen wir? wird allmählich zur Gewissensfrage. Auf den Lehrstühlen
vertreten Professoren Lehren, die so weit von ihrem Ausgangspunkt entfernt
sind, dass sich die Rechtschaffenen früherer Zeiten darüber im Grabe
umdrehen müssten. Geistliche unterzeichnen bei ihrer Einsetzung ins Amt
Verpflichtungen, von denen sie wahrscheinlich wissen, dass sie die Behörde,
die sie einsetzt, selbst nicht ernst nimmt; die damit übernommene
Richtschnur gleicht in vielen Fällen den Bojen, an denen man sehen kann,
wie weit das Schiff der Kirche bereits von dem vorgeschriebenen Kurs
abgewichen ist. Es ist die Zeit des „Mach, was du willst“ oder des „Jeder
ist sich selbst der Nächste“ und dergleichen mehr. Niemand weiß, wo
das noch hinaus will, und diejenigen, für die die Antwort auf diese Frage
am wichtigsten ist, scheinen sich am wenigsten darum zu kümmern.“
Doch
bei der Kritik des äußerlichen Auftretens und des Mangels an Einfluss
der Kirche bleibt die Gegenwart nicht stehen; sie greift ebenso die
wichtigsten Lehren der Kirche selbst an. Man beachte vorab, wie die
gotteslästerliche Lehre von der ewigen Qual, der die Mehrzahl der
Menschen verfallen soll, jene Lehre, durch die lange Zeit die Kirche den
Menschen einzuschüchtern suchte, von den Denkenden durchweg verworfen
wird. In dieser Frage empfindet die Geistlichkeit ein immer dringenderes
Bedürfnis, die Lehre mit Nachdruck zu verfechten, um der um sich
greifenden freieren Anschauung einen Damm entgegenzusetzen. Sie spricht
von der ewigen Qual, der ihre Mitmenschen verfallen sollen, als wäre sie
eine Kleinigkeit, die man so obenhin behandeln könne, und erklären eine
Lehre für wahr, ohne sie auf ihre Wahrscheinlichkeit oder ihre Übereinstimmung
mit der Bibel (Anmerkung: Siehe die Schrift: „Die Hölle. Was ist sie?
Wer ist dort?“) auch nur zu prüfen. Die Welt zieht aus dieser Anmaßung
ihre eigenen Schlüsse, wie sich aus folgenden Pressestimmen ergibt. Der
„Globe Demokrat“ sagt:
„Gute
Kunde kommt aus New York. Die Amerikanische Traktat-Gesellschaft
beabsichtigt, die geistige Nahrung, die sie seit 50 Jahren dem Volke
vorgelegt hat, zurückzuziehen und ihre Religionslehre zu revidieren. Das
kommt daher, dass die Welt keinen Gefallen mehr findet an den heißen und
gepfefferten Gerichten, welche dem Geschmack der früheren Generation
entsprechen, und dagegen vermögen die paar feierlichen Herren von der
Geistlichkeit gar nichts. Die Kirche macht sich nur den Spaß, den
Menschen Toleranz, Menschlichkeit, Vergebung, Liebe und Gnade zu predigen.
Das kann alles ebenso falsch sein, und es kann auch sein, dass wir besser
täten, alle die Voraussagungen zu einem aschgrauen Schicksal weiter zu
lesen und zu glauben. Aber das Volk glaubt es nicht und will es nicht
glauben.“
In
einem anderen Blatt begründet Dr. Rossiter W. Raymond seine Weigerung,
weitere Beiträge an die amerikanische Heidenmission zu leisten, mit
folgenden Sätzen.
„Ich
mag nicht mehr zum Unterhalt von Missionaren beitragen, welche an die
Verdammung aller Heiden zur Hölle und die verabscheuungswürdige Irrlehre
glauben, dass Gott die Heiden nicht liebe. Ich habe diesen ganzen erbärmlichen
Humbug satt und will keinen Pfennig für Verbreitung der Lehre von der
ewigen Verdammnis hergeben ... Mit meinem Gelde soll dieselbe nicht
verbreitet werden. Dass Gott gut ist, das ist eine gute Botschaft, aber
dieselbe wird in eitlen Quark verwandelt durch jene Männer, welche nicht
besser sind als die, die Juggernauts Wagen über die Heiden rollen lassen
und die Leichen der Getöteten den Bestien, die den Wagen zogen, als
Speise vorwerfen. Es ist meine Christenpflicht, nicht das Geringste zu tun
zur Verbreitung einer Lehre, welche die Heiden glauben machen soll, ihre Väter
seien zur Hölle gefahren.“
So
sehen wir, dass die gesamte gegenwärtige Ordnung der Dinge gleichsam auf
der Wage der öffentlichen Meinung auf und ab schwankt. Da die Zeit für
ihren Untergang vorhanden ist, hält der Richter der ganzen Welt die
Gewichte „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“, lässt das Licht
vermehrter Erkenntnis darauf fallen und fordert die Welt auf, die
Gerechtigkeit seines Entschlusses - die Zerstörung der Karikatur des
Christentums, wie wir sie haben - zu erproben und zu prüfen. Allmählich,
aber in schneller Steigerung, macht gegenwärtig die Welt die Probe, und
am Ende wird alles einig sein, und wie ein großer Mühlstein wird
Babylon, die große Stadt der Verwirrung, mit aller ihrer gerühmten bürgerlichen
und kirchlichen Macht, mit aller ihrer Selbsterhebung, mit ihrem Reichtum,
ihren Titeln, ihrem Einfluss, ihren Ehrenstellen, überhaupt mit allem
ihrem eitlen Schaugepränge, ins Meer, ins aufgeregte Meer der Anarchie stürzen
und darin auf immer verschwinden. - Offb. 18:21; Jer. 51:61-64
Ihre
Zerstörung wird 1914, in welchem Jahre die Zeiten der Nationen zu Ende
gehen, beginnen. Die Ereignisse spitzen sich zur Zeit schon schnell auf
eine solche Krisis zu. Wiewohl die Prüfungszeit noch nicht zu Ende ist,
kann doch schon mancher die Handschrift lesen, die ihr Urteil bedeutet:
„Gewogen und zu leicht erfunden!“ und allmählich wird sich das
schreckliche Schicksal Babylons, der Namenchristenheit, erfüllen. Der
alte Aberglaube, der sie so lange stützte, ist im Verschwinden begriffen;
alte Glaubenssätze und bürgerliche Gesetzbücher, die man bisher
hochhielt und ohne Zaudern aus der Vergangenheit herübernahm, werden nun
keck in Frage gestellt; ihre Ungereimtheiten werden hervorgehoben, ihre
greifbaren Irrtümer lächerlich gemacht. Doch richtet sich das Denken der
Massen nicht gegen die Bibel, ihre Wahrheit und ihre gesunde Logik,
sondern gegen den Unglauben. Der Unglaube nimmt zu sowohl innerhalb als
auch außerhalb der Namenkirche; in der Bekenner-Kirche ist das Wort
Gottes nicht mehr die Grundlage des Glaubens und der Führer durch das
Leben. An seine Stelle sind menschliche Lehren getreten, und selbst
heidnische Einbildungen blühen im Schoße der Kirche auf.
Aber
nur wenige sind es im Schoße der Namenkirche, die wachsam und nüchtern
genug sind, um ihren bejammernswerten Zustand zu erkennen, wenn man sie
nicht nach ihrem Reichtum oder der Zahl ihrer Anhänger beurteilt; denn
ihre Geistlichen und Professoren sind vom Geist dieser Welt so sehr
umgarnt und geblendet, so offenkundig getränkt, dass sie den Verfall der
Kirche gar nicht merken. Aber auch in finanzieller und quantitativer
Hinsicht geht es mit ihr sichtbar bergab; denn mit ihrer Erhaltung sind
die Interessen, Aussichten und Annehmlichkeiten des gegenwärtigen Lebens
eng verkettet, und um diese sicherzustellen, empfindet sie den Drang, den
Schein zu erwecken, sie erfülle die Mission, die Welt zu bekehren, was
sie als ihre göttliche Mission betrachtet. Wie viel ihrer Bemühungen
nach dieser Richtung gewirkt haben, werden wir in einer späteren Studie
sehen.
Wenn
wir Babylon in dieser Weise vor aller Welt zur Verantwortung gezogen sehen,
drängt sich uns mächtig die auf dieses Ereignis gehende Prophezeiung des
Psalmisten auf, auf die wir am Anfang dieser Studie verwiesen haben.
Wiewohl Gott Jahrhunderte lang, in denen das Böse in seinem Namen
triumphierte und seine wahren Getreuen allerlei Verfolgung zu erdulden
hatten, dazu schwieg, so hat er doch nichts vergessen, und jetzt ist die
Zeit da, von der er durch den Mund seines Propheten gesagt hat: „Ich
will dich strafen und es dir vor Augen stellen!“ - Psalm 50:21
Wer
wach ist und auf der rechten Seite steht in diesen Zeiten von
schrecklicher Bedeutung, merke auf diese Dinge und überzeuge sich davon,
wie genau sich Prophezeiung und Erfüllung entsprechen.