SCHRIFTSTUDIEN
BAND
5 - DIE
VERSÖHNUNG DES MENSCHEN MIT GOTT
Studie
5
Der
Mittler der Versöhnung
“In
allem den Brüdern gleich”
und
“Mitleid
habend mit unseren Schwachheiten”
Wer
sind “seine Brüder?” —
Worin besteht die Gleichheit? —
In welcher Weise ist er “in allem versucht worden?” —
“Wie wir,
ausgenommen die Sünde”. —
Die Versuchungen in der Wüste. —
Ihre Ähnlichkeit
mit den unserigen. —
Durch deren etliche, “wenn es möglich wäre,
selbst die Auserwählten verführt” werden könnten. —
In welcher Weise
unser Herr “durch Leiden vollkommen gemacht” ward. —
Wiewohl ein Sohn,
lernte er doch den Gehorsam. —
Wie er uns in allen Stücken gleich ward
“ausgenommen die Sünde”. —
“Er hat unsere Leiden getragen”. —
Wie
er sie empfinden konnte.
“Daher
musste er in allem den Brüdern gleich werden, auf das er in den Sachen,
die Gott betreffen, ein barmherziger und treuer Hohepriester werden möchte,
um die Sünden des Volkes zu sühnen.” - Hebr. 2:17
Die
zwei volkstümlichen aber einander zuwiderlaufenden Ansichten betreffend
die Beziehungen unseres Herrn zur Menschheit stehen mit allen diesbezüglichen
Schriftstellen im Widerspruch, und nur die dritte, wahrheitsgemäße
Ansicht vermag einerseits die verschiedenen Bibelzeugnisse in Einklang zu
bringen, und andererseits den geheiligten Verstand zu befriedigen. Eine
der ersten Ansichten geht dahin, unser Herr Jesus sei der allmächtige
Gott (Jehova) gewesen, der sich in menschliches Fleisch gehüllt, ohne
tatsächlich die Prüfungen, Versuchungen und sonstigen Einflüsse, denen
die Menschheit ausgesetzt ist, zu empfinden. Der anderen Ansicht gemäß wäre
der Herr Jesus ein sündiger Mensch, der Mängel und Gebrechen teilhaftig
wie alle anderen, aber im Kampfe und Widerstand gegen die Lockungen der Sünde
erfolgreich gewesen, wie außer ihm niemand. Wie wir aber zu beweisen uns
bemühen werden, sind diese zwei Ansichten unrichtig, indem die Wahrheit
gerade zwischen den beiden liegt. Tatsache ist, dass der Logos, wiewohl in
göttlicher Gestalt, also ein Geistwesen, nachdem er Fleisch geworden, in
Wirklichkeit ein Mensch, “der Mensch Jesus Christus” war, aber
“abgesondert von den Sündern”, ein vollkommener Mensch, zubereitet
als Lösegeld für den ersten vollkommenen Menschen, dessen Fall seine
ganze Nachkommenschaft ins Verderben gerissen hat; dessen Loskauf aber die
Erlösung der ganzen Menschheit nach sich ziehen wird.
Wir
beginnen mit der Untersuchung derjenigen Schriftstellen, aus denen man hat
ableiten wollen, unser Herr sei sündig und den gleichen Fehlern
unterworfen gewesen, wie die anderen Menschen; lasst uns dabei aber nicht
vergessen, dass, wenn dem wirklich so wäre, unser Herr ebenso wenig
imstande gewesen wäre, das ganze Gesetz Gottes zu erfüllen, wie wir. Das
Halten des Gesetzes Gottes nimmt das ganze Maß des Könnens eines
vollkommenen Menschen in Anspruch und geht über das Vermögen eines nicht
vollkommenes Menschen hinaus. Wenn nun der Vater an ihm Wohlgefallen hatte
und ihn als hinreichendes Lösegeld für Adam und dessen Geschlecht
anerkannte, so ist das ein indirekter Beweis seiner Vollkommenheit und Sündlosigkeit,
wovon in der Schrift so oft die Rede ist.
Aber
die “Brüder” unseres Herrn waren nicht ohne Fehl, nicht abgesondert
von den Sündern; wie konnte er denn “seinen Brüdern gleich” und doch
ohne Sünde sein? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Erkenntnis der
Tatsache, dass mit dem Ausdruck “seine Brüder” nicht die ganze
Menschheit, die Sünder allzumal gemeint sind. Adam freilich war als Sohn
Gottes erschaffen worden; und er blieb es auch bis zu seinem Fall, aber
nicht länger; und alle seine Nachkommen werden von der Schrift als
“Kinder des Zornes” bezeichnet. (Epheser 2:3) Einzig die, welche der
“Verdammnis, die auf der Welt liegt”, entronnen und durch Christum mit
dem Vater wieder in Einklang gekommen sind, dürfen sich schriftgemäß
“Kinder Gottes” und “Brüder” Jesu Christi nennen. (Joh. 1:12) Von
den anderen erklärt unser Herr: “Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel,
und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun.” (Joh. 8:44) Unser Herr zählte
sich aber nie unter die Kinder des Teufels, noch unter die Kinder des
Zornes, sondern erklärte, er sei “von Gott ausgegangen und gekommen”.
Ebenso wenig erkannte er diejenigen als seine “Brüder” an, welche
noch Kinder des Zorns waren. Als “Brüder” des Herrn werden nur solche
anerkannt, die, nachdem sie der Verdammnis entgangen sind, sich durch das
Blut Christi dem Vater wieder nähern; die, welche den Geist der
Sohnschaft, der Aufnahme in Gottes Familie und der Verheißung völliger
Sohnschaft zur Zeit der Aufrichtung des Königreiches empfangen haben. (Röm.
8:15, 23; Gal. 4:5) Nur weil gerechtfertigt, weil gerechneterweise frei
von Adams Schuld und gerechneterweise gerecht gemacht durch das Blut
Christi, sind sie unserem Herrn Jesus gleich - seine Brüder, und stehen
sie gleich hoch wie er, über der Welt, in ähnlicher Gunst beim
himmlischen Vater. Und von den Geweihten dieser Klasse spricht unser Herr:
“Sie sind nicht von dieser Welt, gleichwie ich nicht von der Welt
bin”; “ich habe euch aus der Welt auserwählt”. (Joh. 15: 19; 17:16)
So gesehen, können wir begreifen, dass und inwiefern unser Herr “seinen
Brüdern in allem gleichgemacht” wurde. Nicht zwar, dass seine Brüder
zur Zeit seiner Geburt es schon gewesen wären - denn er hatte damals noch
keine Brüder, ausgenommen diese Klasse, die dem Vater zum voraus bekannt
war. (Eph. 1:5, 11; Röm. 8:9) Gott wusste, dass er gerecht sein und doch
diejenigen Sünder, welche die göttliche Gnade in Christo annehmen würden,
rechtfertigen könne, dadurch, dass ihre Sünden nicht ihnen, sondern
Christo zugerechnet würden, ihm, der am Kreuze unsere Sünden getragen
hat. Gott wusste auch und hatte es selbst zuvor verordnet, dass eine
Evangeliums-Kirche berufen werden sollte, deren Glieder zu “Miterben
Christi”, unseres Herrn, bestimmt sind, zu Miterben eines unverweslichen,
unbefleckten und unverwelklichten Erbes, das behalten wird im Himmel (um
in der ersten Auferstehung offenbar zu werden. Und weil dies alles von
Anbeginn in Gottes Plan bestimmt war, so konnten denn auch die Propheten
von dieser Klasse als von “Brüdern Christi” weissagen. So verstehen
wir auch Psalm 22:22, wo der Herr Jesus prophetisch als Sprecher
dargestellt ist, indem er zu seinem himmlischen Vater sagt: “Verkündigen
will ich deinen Namen meinen Brüdern, inmitten der Versammlung (Herauswahl)
will ich dich loben.” (siehe auch Hebr. 2:12) Da nun gemäß dem göttlichen
Plane unser Herr Jesus nicht nur der Erlöser der Menschheit werden sollte,
sondern zudem ein Vorbild “seinen Brüdern”, seinen Miterben, so war
es nötig, dass er auch in all seinen Versuchungen und Erfahrungen “den
Brüdern gleich gemacht würde”. Gehen wir nun an die Betrachtung der
entsprechen Schriftstellen.
“Er
ist in allem versucht worden in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde”
Hebr. 4:15
Vor
allem sollte man beachten, dass diese Stelle nicht besagt, der Herr Jesus
sei in allem versucht worden, gleichwie die Welt versucht wird, sondern
gleichwie wir, seine Nachfolger. Er wurde nicht von Begierden noch sündhaften
Dingen geplagt, denn er hatte keine solchen Begierden von einem irdischen
Vater ererbt. Heilig, sündlos, unbefleckt und “abgesondert von den Sündern”,
ist er nach der gleichen Richtung versucht worden, wie seine Nachfolger während
des ganzen Evangeliums-Zeitalters, die nicht nach dem Fleische, sondern
nach dem Geiste wandeln, und die gerichtet werden, nicht nach den
Schwachheiten ihres Fleisches, sondern nach dem Geiste ihrer Gesinnung,
gemäß ihrem neuen Willen und Herzen. - Röm. 8:4; 2. Kor. 5:16; Joh.
8:15
Dies
ersieht man deutlich aus dem Bericht über seine Versuchung in der Wüste,
die unmittelbar nach seiner Weihung, seiner Taufe im Jordan, stattfand. -
Matth. 4:1-11
1.
Die erste Einflüsterung Satans war, dass unser Herr die ihm bei seiner
Taufe gewordene göttliche Kraft für seine eigenen Bedürfnisse
gebrauchen solle, indem er aus Steinen Brot mache, um seien Hunger zu
stillen. Ein mit Erbsünde belasteter, unvollkommener Mensch hätte nicht
in diese Versuchung gestellt werden können, weil ihm die dabei
vorausgesetzte Kraft gefehlt hätte. Unser Herr hingegen war 40 Tage ohne
Nahrung geblieben, hatte während dieser Zeit den Plan Gottes studiert,
hatte unter dem erleuchtenden Einfluss des soeben empfangenen heiligen
Geistes zu bestimmen gesucht, auf welche Weise er sich wohl am besten des
großen Auftrages, womit er in die Welt gekommen, entledigen, die Welt erlösen
könne. Der Vorschlag, er möchte seine göttliche Kraft, in deren Besitz
er sich fühlte, zur Befriedigung der Bedürfnisse seines Fleisches
gebrauchen, schien auf den ersten Anblick ganz vernünftig zu sein. Aber
unser Herr erkannte alsbald, dass ein Gebrauch seiner geistigen Gaben zu
diesem Zweck ein Unrecht, ein Missbrauch wäre, wofür sie nicht bestimmt
waren, und deshalb wies er den Vorschlag mit den Worten zurück: “Es
steht geschrieben, nicht vom Brot allein soll der Mensch leben, sondern
von jedem Wort, das durch den Mund Gottes geht.” Der Widersacher
versucht die “Brüder” des Herrn manchmal in ähnlicher Weise, indem
er ihnen einflüstert, geistige Gaben zur Förderung irdischer Interessen
zu gebrauchen. Solche Versuchungen sind gefährlich, und manch ein
geweihtes Kind Gottes hat sich darin vom Widersacher zu immer schwererem
Missbrauch göttlicher Gnadengaben verleiten lassen.
2. Der
zweite Vorschlag des Verführers ging dahin, der Herr möchte durch einen
in seiner Macht stehenden “Zauber” die Aufmerksamkeit des Volkes auf
sich und sein Werk lenken. Er sollte sich angesichts einer großen
Volksmenge von den Zinnen des Tempels in das tiefe Tal Thyapora stürzen
und dort unbeschädigt aufstehen. Das Volk würde darin einen Beweis
seiner übermenschlichen Kraft erblicken, ihn sofort als den Messias
erkennen und annehmen und, auf seine Seite sich stellend, an der Hinausführung
seines Werkes mitzuhelfen begehren. Aber unser Herr sah sofort, dass ein
solches Verfahren den göttlichen Anordnungen gänzlich zuwider laufe, und
dass sogar die durch Satan falsch angebrachte Schriftstelle (die scheinbar
das Unrecht begünstigte) ihn nicht berechtigte, von den Grundsätzen der
Gerechtigkeit abzuweichen. Er gab dem Versucher denn auch sofort zu
verstehen, dass ein solches Vorgehen seinerseits ein Gottversuchen wäre,
ein Fall, wofür die erwähnte Verheißung nicht gegeben sei und darum nie
und nimmer in Betracht komme. Wo aber Pflicht ihn rief oder Gefahr, da zögerte
der Meister nicht, sondern zählte auf die Macht und Fähigkeit des Vaters,
in jeder Lage das Nötige vorzukehren. Wahres Gottvertrauen veranlasst
jedoch nicht zu verwegenen und nutzlosem Aufsuchen der Gefahr, ohne dass
ein Befehl Gottes vorliegt, bloß um Aufsehen zu erregen, in einem
prahlerischen Sinne.
Die
Brüder des Herrn werden auch in dieser Richtung versucht und tun deshalb
wohl, sich des von dem “Herzog unseres Heils” gegebenen Beispiels zu
erinnern. Wir sollen uns nicht mutwillig in Gefahr stürzen, um dann als
“mutige” Kreuzesstreiter zu gelten. Teufelstrutzige Taten (Taten,
wodurch dem Teufel die Stirn geboten werden soll) mögen den Kindern des
Teufels am Platze zu sein scheinen, für Kinder Gottes sind sie durchaus
unpassend. Letztere haben Kriegsdienste zu leisten, welche noch größeren
Mut erfordern. Sie sind zu Dienstleistungen berufen, welchen die Welt
nicht Beifall zollt, die sie nicht einmal zu würdigen weiß, sondern eher
noch verfolgt. Sie sind berufen, Schmach und den Spott der Welt zu
ertragen, ja sie müssen geschehen lassen, dass, die unbeschnittenen
Herzens sind, mit Unrecht allerlei Übels über sie reden, um Christi
willen. In dieser Hinsicht haben die Nachfolger Christi denselben Weg zu
gehen wie er, in seinen Fußstapfen wandelnd. Und es erfordert weit größeren
Mut, Schande und den Spott der Welt zu übersehen und in dem verachteten
Dienstverhältnis zu Gott zu verharren, als irgend einen großen,
“wunderbaren” Kampf zu kämpfen, der das Staunen und die Bewunderung
des natürlichen Menschen erweckt.
Einer
der schwersten Kämpfe für die, welche auf dem schmalen Pfade wandeln,
ist derjenige gegen den Eigenwillen. Es gibt kaum etwas Schwereres, als
seinen Willen beständig demjenigen des himmlischen Vaters zu unterwerfen
und in dieser Unterwürfigkeit zu erhalten, das eigene Herz zu beherrschen,
aufkeimenden Ehrgeiz, der selbst einem vollkommenen Menschen etwas Natürliches
ist, zu unterdrücken, als wäre es der Anfang einer Feuersbrunst, und den
Leib und alle irdischen Interessen als lebendiges Opfer darzubringen im
Dienst des Herrn und seiner Sache. Dies waren die Versuchungen, in welchen
unser Meister seinen Sieg errang, wo er sich seine Lorbeeren erwarb, und
dieser Art sind auch die Versuchungen, in denen seine Brüder auf die
Probe gestellt werden. “Wer seinen Geist beherrscht, ist größer, als
wer eine Stadt erobert.” - Spr. 16:32
Ein
solcher ist also größer als einer, der infolge falschen Begriffes vom
Glauben von den Zinnen des Tempels herabspränge oder sonst eine tollkühne
Tat verübte. Wahrer Glaube an Gott besteht nicht in blindem Aberglauben
oder in unverständigen Voraussetzungen bezüglich seiner fürsorgenden
Vorsehung; er besteht vielmehr in ruhigem Vertrauen auf die “überaus
großen und köstlichen Verheißungen Gottes”, ein Vertrauen, das den Gläubigen
befähigt, den verschiedenen “Anläufen” - welche Welt, Fleisch und
Teufel auf ihn machen, um seine Aufmerksamkeit abzulenken - erfolgreich zu
widerstehen und genau der im göttlichen Worte verzeichneten Richtschnur
des Glaubens und Gehorsams zu folgen.
3.
Die dritte Versuchung unseres Herrn bestand darin, dass Satan ihm irdische
Herrschaft und raschen Erfolg bei der Aufrichtung seines Reiches anbot,
ohne dass er zuvor leiden und sterben müsste: ohne das Kreuz, einfach
mittelst eines Vergleiches mit dem Widersacher. Dieser machte geltend, und
es wurde ihm nicht in Abrede gestellt, dass ihm die Herrschaft über die
Welt gehöre, und dass also bei seiner Mitwirkung das Reich der
Gerechtigkeit, welches zu gründen unser Herr gekommen war, um so sehr
eher aufgerichtet werden könne. Satan stellte sich, als hätte er es satt,
die Menschheit noch ferner in Sünde, Blindheit, Aberglauben und
Unwissenheit hineinzuführen, und als hätte er volle Sympathie mit dem
Auftrage unseres Herrn, welcher unserem armen, verkommenen Geschlecht
wieder aufhelfen wollte. Das einzige, was Satan sich vorbehalten wollte, wäre
eine gewisse Oberaufsicht über die Welt gewesen. Er würde also mithelfen,
die Welt wieder auf rechtliche Bahnen zu lenken und der Menschheit die
durch Christum verheißene Wiederherstellungs-Segnungen zu bringen, aber
unter der Bedingung, dass Jesus ihm Huldigung darbringe und ihn auch nach
dem vollendeten Wiederherstellungswerke als Herrn der Welt anerkenne.
Wir
müssen uns daran erinnern, dass Satans Erhebung gegen die göttlichen
Gesetze seinem ehrgeizigen Wunsche entsprungen war, selber ein
Alleinherrscher - gleich dem Allerhöchsten - zu sein (Jes. 14:14). Das
war auch seine Absicht bei seinem erfolgreichen Angriffen auf unsere
ersten Eltern im Paradiese: er wollte sie von Gott entfremden und zu
seinen eigenen Untertanen machen. Wir dürfen schon annehmen, dass Satan
auch lieber über glückliche, mit ewigem Leben begabte Untertanen
herrschen möchte, als über eine seufzende, dem Tode geweihte Kreatur.
Fast scheint es, dass er sogar heute noch nicht anerkennen will, dass
wahres Glück und ewiges Leben unmöglich sind ohne Übereinstimmung mit
dem göttlichen Gesetze; er zeigte sich deshalb willig, sein Reich in
allen Stücken zu reformieren, eins ausgenommen: sein Ehrgeiz sollte dabei
befriedigt werden; er wollte nichtsdestoweniger der Beherrscher der
Menschheit bleiben. Und war er nicht schon der Fürst dieser Welt und von
der heiligen Schrift als solcher anerkannt? (Joh. 14:30; 12:31; 16:11; 2.
Kor. 4:4) Nicht zwar, dass er von Gott als “Fürst dieser Welt”
eingesetzt worden wäre; sondern er hatte sich dieser Herrschaft selbst
bemächtigt, indem er den rechtmäßigen König der Erde, den Menschen, in
seine Gewalt brachte. Durch das Mittel der Unwissenheit und durch
Verdrehung der Begriffe von falsch und wahr, Finsternis und Licht, Unrecht
und Recht, hat er die Menschheit so irregeleitet und verblendet, dass er
seine Stellung als “Fürst der Gewalt der Luft, der jetzt wirksam ist
unter den Söhnen des Ungehorsams” (der größten Mehrzahl) behaupten
konnte.
Die
Versuchung in Satans Vorschlag lag somit darin, dass derselbe unserem
Herrn Jesus die Möglichkeit eröffnete, es könne die Frage von der
Befreiung der Menschheit aus ihrem sündhaften Zustand auch auf eine
andere als der von Gott vorgesehenen Weise gelöst werden. Ja noch mehr,
der Vorschlag mochte den Anschein erwecken, als ob Satan selbst teilweise
seine Gesinnung geändert hätte und möglicherweise sogar wieder in Pfade
der Gerechtigkeit gelenkt werden könnte, wenn nur seinem Ehrgeiz
entsprochen und ihm die Herrschaft über innerlich und äußerlich glücklichere
Untertannen zuerkannt würde, als es die Opfer seines Betruges, die
Knechte der Sünde wirklich sind. Denn so wie er gewaltet, vermag er seine
Herrschaft nur so lange zu behaupten, als die Menschheit in den
Sklavenketten der Sünde liegen bleibt und sich von ihm täuschen lässt,
da der Mensch, je mehr er die Sünde hassen und Gerechtigkeit und
Heiligkeit schätzen lernt, desto mehr Gott zu dienen und ihn anzubeten wünscht.
Unser
Herr ließ sich aber durch diesen Anschein nicht trügen; bei ihm stand es
unerschütterlich fest, dass sein Vater in seiner Weisheit den richtigen
und besten Weg gefunden und eingeschlagen habe, um die Menschheit zu erlösen.
Darum beriet er sich nicht mit Fleisch und Blut, noch weniger begehrte er
Satans Mitwirken bei der Hebung der Welt.
Auch
diese dritte Versuchung ist eine von denen, womit der Widersacher ziemlich
häufig an die “Brüder” des Herrn herantritt. Und er hatte bei der
Namenkirche auch guten Erfolg, indem er dieselbe schon sehr früh vom
Kreuzweg, vom schmalen Pfade ablockte, um sie dafür zu bewegen, sich mit
den bürgerlichen Gewalten zu verbinden, damit sie auf diese Weise nach
und nach Einfluss auf die “Dinge dieser Welt” bekäme. Unter
Mitwirkung der “Fürsten dieser Welt”, hinter denen der Widersacher
sich geschickt zu verbergen wusste, suchte die Namenkirche das Reich
Christi auf Erden aufzurichten, durch einen Vertreter, einen Papst, von
welchem sie behauptete, er sei Christi Stellvertreter oder Vizekönig. Wir
haben gesehen, welch verderblichen Folgen dieses Verfahren nach sich
gezogen hat, wie dieses nachgeäffte “Königreich Christi” in
Wirklichkeit ein Königreich des Teufels wurde, dessen Werk es tat. Kein
Wunder also, dass es das “finstere Mittelalter” heraufbeschwor, und
dass der Herr in seinem Worte dieses ganze System als den “Antichrist”
brandmarkte! (siehe Band 2, Studie 9)
Und
obwohl mit kühnem Mute eine Reformation in Angriff genommen wurde, sehen
wir doch, dass der Widersacher die Reformatoren bald wieder in seinem Bann
zurück gezaubert hatte, indem er mit denselben Versuchungen an sie
herantrat, womit er schon in den ersten Jahrhunderten die Namenkirche zu
falle gebracht. Sie widerstanden ihm auch nur teilweise und wahren bereit,
einen Teil der Wahrheit fahren zu lassen, um sich dafür den Schutz und
die Unterstützung weltlicher Mächte zu sichern, in der Hoffnung, dass
diese gewissermaßen sich zum Reiche unseres Herrn um- und ausgestalten würden.
Aber wenn die Verbindung des Protestantismus mit irdischen Mächten auch
nicht so verderblich ist, wie der Bund des Papsttums mit den Reichen
dieser Welt, so ist sie doch allen, die unter ihrem Einfluss stehen, in
hohem Grade nachteilig und hinderlich. Die “Brüder” haben deshalb
beständig zu wachen und zu kämpfen, um den Versuchungen des Widersachers
erfolgreich widerstehen zu können, um fest zu bleiben in der Freiheit,
womit uns Christus frei gemacht - jener Freiheit, die nicht von der Welt
ist, sondern im Abgetrenntsein von der Welt besteht.
Wir
bemerken übrigens, dass die gleiche Versuchung an alle “Brüder”
herantritt, wenn auch in von Zeit zu Zeit veränderter Gestalt. Der große
Widersacher verfährt dabei zuweilen mit der größten Verschlagenheit;
wie beim Herrn, so will er auch bei uns den Schein erwecken, als habe das
Werk der Segnung der Welt seine volle Sympathie. Heutzutage versucht er
die Brüder mit den Bemühungen um die “soziale Hebung”, und er hat
mit seinen bisherigen Vorspiegelungen auch bei vielen Erfolg. Er erweckt
jetzt den Gedanken, dass, möge es auch in der Vergangenheit nötig
gewesen sein, auf dem schmalen Kreuzesweg zu wandeln, es dessen jetzt
nicht bedürfe. Wir hätten es jetzt soweit gebracht, dass die Welt in
sozialer, sittlicher und religiöser Hinsicht vergleichsweise rasch und
leicht auf ein höheres Niveau gehoben werden könne. Aber die
erstrebenswerten Ziele, die er unserer Einbildungskraft vorgaukelt, setzen
eine Verbindung mit ihm voraus: und gegenwärtig verlangt er von allen,
die an der sozialen Hebung mitwirken wollen, dass sie sich an sozialen und
politischen Bewegungen beteiligen, welche zum gewünschten Ziele führen
sollen. Und er ist dabei so kek und der Zustimmung der Menschheit so
sicher geworden, dass er es nicht mehr für nötig hält, die Lehre der
Schrift zu “unterstützen”, welche des einzelnen Bekehrung von der Sünde
und Erlösung von der Strafe verlangt, und wonach es erforderlich ist,
dass jeder einzelne durch einen persönlichen Glauben und eine persönliche
Hingabe an Christum Jesum mit Gott, dem Vater, versöhnt werde, Satan
empfiehlt uns vielmehr eine Hebung der Gesellschaft, wobei die Sünden und
Verantwortungen des einzelnen aus dem Spiele bleiben, und bloß die
gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse betroffen werden sollen,
damit die menschliche Gesellschaft äußerlich rein würde. Die Lehre
unseres Herrn Jesu, wonach nur die, welche durch ihn zum Vater kommen,
Gottes Söhne und seine “Brüder” sind, ist dem Widersacher im Wege,
und er sähe es viel lieber, wenn wir glauben wollten, alle Menschen seien
Brüder, Gott sei der Vater aller, es gebe keine “Kinder des Zornes”,
und es sei sträflich unchristlich und lieblos, an die Worte des Herrn zu
glauben, wonach etliche von ihrem Vater dem Teufel sind. Auf diese Weise möchte
er, ohne es immer gerade heraus zusagen, uns dazu bringen, den Sündenfall
und mithin auch die Lehre vom Lösegeld zu leugnen, oder doch wenigstens
unbeachtet zu lassen. Und damit seine Täuschung um so mehr Erfolg erziele,
bedient er sich dabei der schönen aber betrügerischen Losungsworte wie
“Vaterschaft Gottes und Brüderschaft der Menschen” und “Liebe
deinen Nächsten”.
Durch
diese Versuchung, womit der Widersacher heutzutage an die Brüder
herantritt, werden viele verführt, sehr wahrscheinlich sogar alle,
ausgenommen die “Auserwählten”. (Matth. 24:24) Diese auserwählten Brüder
sind es, welche getreulich in den Fußstapfen ihres Meisters wandeln und,
statt den Einflüsterungen des Widersachers Gehör zu schenken, auf das
Wort Gottes Acht geben. Diese auserwählten “Brüder” bauen nicht auf
ihre eigene Weisheit und auf das Blendwerk Satans, sondern vertrauen auf
die erhabene Weisheit Jehovas und seinen göttlichen Plan der Zeitalter.
Sie sind deshalb “von Gott gelehrt” und wissen dabei, dass das Werk
des gegenwärtigen Zeitalters die Herauswahl, Prüfung und Erhöhung der
Brüder ist, damit dieselben als geistiger Same Abrahams die Welt segnen könne,
und dass die Hebung der Welt in geistiger, sittlicher und leiblicher
Beziehung Sache des nächsten Zeitalters sein wird. Weil sie das wissen, können
die Auserwählten auch den ausgesuchtesten und schön klingenden Phrasen
ihres schlauen Gegners erfolgreich widerstehen. Vor diesen Verführungen
sind sie außerdem auch ausdrücklich durch das Wort Gottes gewarnt worden.
Sie blicken deshalb auf zu Jesum, welcher nicht allein durch die
Aufopferung seiner selbst der Anfänger ihres Glaubens ist, sondern auch
dessen Vollender sein wird, wenn er sie der ersten Auferstehung teilhaftig
machen und ihnen Anteil an seiner überaus großen Herrlichkeit und seiner
göttlichen Natur verleihen wird.
Das
sind die Punkte, in denen die „Brüder” versucht werden, und in denen
auch ihr Meister versucht wurde. Er wurde in allem versucht, gleichwie wir
versucht werden; er weiß daher, wie denen geholfen werden muss, die in
Versuchung stehen, und welche bereit sind, die Hilfe in der Weise
anzunehmen, wie sie ihnen dargeboten wird, nämlich durch Belehrung aus
dem göttlichen Worte mit seinen großen und köstlichen Verheißungen.
Die Schwachheiten, die wir von unseren Vätern erbten, haben freilich mit
den Versuchungen unseres Herrn nichts zu schaffen. Ihn plagte nicht der
Durst des Trinkers, der Hass des Mörders, die Habsucht des Diebes,
sondern er war heilig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern.
Gleicherweise werden auch seine Brüder nicht an solchen Neigungen und
Leidenschaft versucht. Diejenigen, welche durch Glauben und Weihung und
Zeugung durch den heiligen Geist der Sohnschaft zu Brüdern Jesu Christi
geworden sind, haben die Neigung, anderen zu schaden, verloren; und statt
dessen haben sie eine neue Gesinnung empfangen, die Gesinnung Christi -
den Geist Christi, den Geist eines gesunden Verstandes, den heiligen Geist,
den Geist der Liebe, - welche zuerst den Willen des Vaters sucht und
zweitens, “nachdem sie Gelegenheit haben, das Gute wirkt gegen alle, am
meisten aber gegen die Hausgenossen des Glaubens”. - Gal. 6:10
Eine
ererbte Schwäche, eine Neigung zu Leidenschaft oder Streitsucht bleibt
freilich im Fleische dieser neuen Kreaturen, in denen der neue Wille, die
neue Gesinnung herrscht, zurück; sie müssen deshalb beständig auf ihrer
Hut sein; und gelegentlich werden sie trotzdem wider ihren Willen von
einem Fehler übereilt; aber diese von ihrem Willen unabhängigen Schwächen
und begangenen Fehler werden ihnen nicht als Sünde angerechnet, nicht als
Handlungen der neuen Kreatur, sondern als der alten Natur anhängenden Mängel
betrachtet, welche, solange die neue Kreatur ihnen widersteht, als durch
den Tod Christi gesühnt angesehen werden. Die neue Kreatur allein ist es,
welche auf die Probe gestellt, behauen und poliert und zubereitet werden
muss auf die Miterbschaft Christi in seinem Reiche, nicht der Leib von
Fleisch, der als solcher für tot gerechnet ist.
“Durch
Leiden vollkommen gemacht”
“Denn es geziemte ihm (dem Vater), um
deswillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind, indem er viele Söhne
zur Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch Leiden
vollkommen zu machen.”
-
Hebr. 2:10 -
Bei
Betrachtung dieses Textes müssen wir dreierlei Vollkommensein scharf
unterscheiden. Zwei Arten des Vollkommseins waren der Zustand unseres
Herrn, ohne dass er zuvor gelitten hatte; das Leiden musste somit zur
dritten Art führen. Zunächst war unser Herr ein vollkommener Mensch
durch seine wunderbare Geburt, er war frei von Erbsünde, abgesondert von
Sündern. Zu dieser Vollkommenheit hatten keine Leiden geführt, denn
dieselben hätten in seinem früheren Leben als Logos beim Vater
Platzgreifen müssen. Auch als Logos war er vollkommen, zur Zeit, da er
bei dem Vater war, ehe denn die Welt ward - vollkommen in seinem ganzen
Wesen, in Herz und Sinn dem Vater völlig ergeben; und diese von seiner
Erschaffung herstammende Vollkommenheit hat er nie eingebüsst; auch da
nicht, als er aus freien Stücken sich erniedrigte und Fleisch wurde. Er
wurde ein vollkommener Mensch. Jetzt aber ist er vollkommen in seiner hoch
erhöhten göttlichen Natur, und es kann unser Text somit nur von diesem
letzteren Vollkommensein handeln. Einer so großen Erhöhung zu der Ehre
und Unsterblichkeit der göttlichen Natur mussten, der göttlichen
Weisheit gemäß, gewisse Proben vorangehen, deren Bestehen den Anspruch
des eingeborenen Sohnes Gottes auf Teilnahme an allen Reichtümern der göttlichen
Gnade begründen sollte, damit die Menschen mit Recht den Sohn so hoch
ehren, wie den Vater.
Damit
er nun diese Probe, worin er seinen Gehorsam gegenüber seinem Vater bewähren
sollte, um so leichter bestehen könne, wurde ihm eine gewisse Freude
bestimmt in Aussicht gestellt, wie geschrieben steht: “Welcher, der
Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz
erduldete.” (Hebr. 12:2) Wie wir wohl richtig vermuten, bestand diese
Freude:
1.
darin,
einen dem Vater angenehmen Dienst zu leisten;
2.
die
Menschheit zu versöhnen und damit ihre Erlösung aus Sünde und Tod zu
ermöglichen;
3.
durch
Bezahlung des Lösegeldes vom Vater würdig erachtet zu werden, der
machtvolle Beherrscher und Segenspender, der König und Hohepriester der
Welt zu sein, damit er derselben den Plan Gottes offenbaren und alle
diejenigen aus dem sündigen Zustande zu einem Gott wohl gefällig sein
zurückbringen könne, welche die Bedingungen des neuen Bundes annehmen;
4.
nicht
nur zu der Ehrenstellung, die er als Geistwesen eingenommen, ehe denn die
Welt ward, zurückkehren zu dürfen, sondern zu einer noch erhabeneren,
alle Engel, Fürstentümer und Gewalten weit überragenden Herrlichkeit
erhöht und teilhaftig zu werden der Herrschaft des Vaters über das
Weltall, der göttlichen Natur und damit verbundenen Unsterblichkeit.
Diese
vor ihm liegende Freude war an die Bedingung vollen Gehorsams, völliger
Unterwerfung unter den Willen des Vaters geknüpft. Freilich war er dem
Vater immer gehorsam gewesen; stets hatte er Wohlgefallen an des Vaters
Wegen; aber auf eine so harte Probe war er noch nie gestellt worden. Bis
jetzt war es eine Ehre, eine Freude gewesen, den Willen des Vaters zu tun,
nun aber sollte er seine Bereitwilligkeit hierzu unter Verhältnissen bewähren,
wo der Gehorsam mit Enttäuschungen, Mühsalen und Demütigungen aller Art
verbunden war und ihm schließlich nicht nur den Tod, sondern dazu noch
die Schmach eines entehrenden Todes als Missetäter am Kreuze bringen
sollte. Er hat aber diese Probe bestanden, ohne Wanken und Schwanken; in
allen Lagen bewies er voll und ganz seinen unerschütterlichen Glauben an
die Gerechtigkeit, Liebe, Weisheit und Allmacht des Vaters, und erduldete
er ohne Zögern nicht nur den Widerspruch und Widerstand der Sünder,
sondern auch alle anderen Anfechtungen des Widersachers. In dieser
Hinsicht durch Ertragung der Leiden, begründete er seinen Anspruch auf
die ihm in Aussicht gestellte Freude und wurde er vollkommen gemacht als
Wesen höchster Ordnung, d.h. göttlicher Natur. Darum sagt denn auch die
Schrift mit Recht vom Eingeborenen vom Vater:
“Obwohl
er Sohn war, lernte er an dem, was er litt, den Gehorsam, und, vollendet
worden, ist er allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils
geworden.”
Hebr. 5:8-10
Hiermit
erklärt der Apostel unter der Leitung des heiligen Geistes, dass unser
Herr, obwohl sündlos und vollkommen, wiewohl ein Sohn und dem Vater unter
günstigen Verhältnissen untertan, noch lernen musste, was es heißt,
unter höchst ungünstigen Verhältnissen den Gehorsam zu bewähren, dass
er aber diese Prüfung bestanden und sich daher der Vollkommenheit als
Wesen höchster Ordnung würdig erwiesen habe, dass der Vater ihm diese
Vollkommenheit verlieh, als er aus den Toten auferstand, um erst der Erlöser
der Herauswahl, “seines Leibes”, hernach aber “zu seiner Zeit”,
der Erlöser aller derer zu werden, welche, nachdem sie zur Erkenntnis der
Wahrheit gekommen, ihm gehorsam sein werden.
Mit
obiger Schriftstelle stimmt auch das Zeugnis Petrus überein, das er vor
dem hohen Rat ablegte: “Der Gott unserer Väter hat Jesum auferweckt.
... Diesen hat Gott durch seine Rechte zum Fürsten und Heiland erhöht.”
- Apg. 5:30, 31
So
hat unser Herr Jesus vor dem Vater, den Engeln und vor uns (seinen Brüdern)
seine völlige Ergebung in den Willen des Vaters und jede einzelne seiner
Verfügungen erwiesen. So hat er des Vaters Gesetz herrlich gemacht und
gezeigt, dass dasselbe nicht zu streng oder übertrieben war, sondern dass
ein vollkommenes Wesen imstande sei, es zu halten, und zwar selbst unter
den schwierigsten Verhältnissen. Darum dürfen wir, seine Nachfolger,
wohl mit einstimmen in den Lobgesang aller gehorsamen und intelligenten
Geschöpfe Gottes. “Würdig ist das Lamm, das geschlachtet wurde, zu
empfangen die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und
Herrlichkeit und Segnung.” - Offb. 5:12
Und
wie unser verherrlichter Herr der Herzog unserer Seligkeit ist, so müssen
auch alle seine Soldaten, die als Kreuzesstreiter ihrem Hauptmanne
nachfolgen und Miterben seiner königlichen Herrschaft werden wollen, als
“neue Kreaturen” gleicherweise durch Leiden und Prüfungen vollkommen
gemacht werden. Und wie die Leiden, durch die unser Hauptmann als neue
Kreatur vollkommen gemacht wurde, darin bestanden, dass Welt, Fleisch und
Teufel ihm widerstanden, und darin, dass er in voller Ergebung in den
Willen des Vaters diesen Widerstand geduldig und ohne Murren ertrug, so
verhält es sich auch mit uns. Die Leiden, durch welche unsere neue
Kreatur vollkommen gemacht werden soll, sind nicht diejenigen, welche wir
mit der übrigen seufzenden Kreatur gemein haben, als Glieder der
Menschheit, sondern es ist die willige, freudige Ertragung dessen, was wir
um des Herrn, seines Wortes und seiner Brüder willen erdulden: das
Ungemach, das uns begegnet, wenn wir als gute Streiter Jesu Christi
unseren eigenen Willen demjenigen unseres Hauptmannes und unseres
himmlischen Vaters zu unterwerfen und dadurch in den Besitz eines
vollkommenen, gerechten Willens zu gelangen suchen. Das haben wir zu tun,
wenn wir tatsächlich in seinen Fußstapfen wandeln wollen - in ruhigem
Vertrauen auf seine Fürsorge vor dem himmlischen Gnadenthron uns Schritt
für Schritt seine Hilfe erbittend; im vollen Vertrauen auch auf seine
Verheißung, dass alle Dinge zu unserem Besten dienen, und dass er uns
nicht über unser Vermögen versuchen lässt, sondern uns vielmehr in
jeder Versuchung einen Ausweg zeigen und uns in jeder Prüfung die nötige
Gnade, und rechtzeitige Hilfe in jeder Not zu teil werden lassen will.
Dies ist die Prüfung, welche “seine Brüder” zu bestehen haben, und
durch welche sie als neue Kreaturen in Christo vollkommen gemacht werden -
“fähig zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte.” - Kol. 1:12
“In
Gleichheit des Fleisches der Sünde”
“Denn
das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war (indem
durch den Sündenfall alles Fleisch verdorben und deshalb unfähig war,
dem Gesetze unbedingten Gehorsam zu leisten), das tat Gott, indem er,
seinen eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der Sünde und für die Sünde
sendend, die Sünde im Fleische verurteilte (und durch das Blut den Neuen
Bund versiegelte, auf dass unter demselben) das Recht des Gesetzes erfüllt
würde in uns, die wir nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste
wandeln. Für solche also, ist jetzt keine Verdammnis, denn das Gesetz des
Geistes des Lebens in Christo Jesus (unter dem Neuen Bunde) hat uns frei
gemacht vom Gesetz, welches alle Unvollkommenen als Sünder verurteilte
und zum Tode verdammte.” - Röm. 8:1-4
Wer
mehr oder weniger der Ansicht zuneigt, dass unser Herr ein Sünder, ein
Glied unseres gefallenen Geschlechtes gewesen sei, stützt sich zur Begründung
seiner Ansicht auf diese Stelle und sucht dieselbe so zu drehen, dass sie
in Widerspruch mit der Vernunft und mit anderen Schriftstellen gerät, um
damit zu beweisen, dass Christus ganz genau dem sündlichen Fleische
gleich gemacht worden sei, und nicht dem Fleische, das nicht gesündigt
hatte - nämlich Adam vor dem Falle. Wir haben aber durch obige
Umschreibung des Textes (unter Beifügung nützlicher Erläuterungen) den
Gedanken des Apostels ohne Zweideutigkeit wiederzugeben versucht. Die
Stelle will nämlich sagen, dass unser Herr die Herrlichkeit seiner
geistigen Natur verließ und Fleisch wurde, d.h. derselben Natur
teilhaftig, wie das Geschlecht, welches zu erkaufen er herabkam, weil es
in die Bande der Sünde geraten, unter die Sünde verkauft war durch den
Ungehorsam seines Stammvaters, Adam. Es ist also nicht der Urtext, sondern
zweideutige Übersetzung dieser Schriftstelle schuld, wenn mit derselben
scheinbar bewiesen werden kann, dass Christus ein sündiger Mensch
geworden sei. Nein, so etwas Vernunftwidriges lehrt die Schrift nicht;
denn, wäre unser Herr Jesus ein Sünder gewesen, oder auch nur im
geringsten mit dem Fluche behaftet, der auf der ganzen Menschheit lastet,
so hätte er nimmer unser Sühnopfer werden können, indem kein Sünder
sich als Sühnopfer für einen anderen Sünder darbieten kann. Nach dem göttlichen
Gesetz ist der “Tod der Sünde Sold”. Wäre unser Herr auch nur im
geringsten sündig gewesen, so hätte er sein Leben schon verwirkt gehabt,
und das selbe wäre also wertlos gewesen und hätte kein Lösegeld für
Adam oder irgend einen anderen Sünder sein können.
“Er
selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten.”
“Fürwahr,
er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich
geladen. Und wir, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und
niedergebeugt; doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um
unserer Missetaten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag
auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden.” - Matth.
8;17; Jes. 53: 4, 5
Vollkommenheit
ist das Gegenteil von Schwachheit. Die Tatsache, dass unser Herr an körperlichen
Schwachheiten litt, die doch mit dem Begriffe Vollkommenheit unvereinbar
sind, muss also hier eingehend betrachtet werden, denn sie könnte als ein
Beweis dafür in Anspruch genommen werden, dass er nicht vollkommen,
sondern mit einigen von den Schäden unseres gefallenen Geschlechtes
behaftet gewesen sei. Wir erinnern daran, dass unser Herr in seinen höchsten
Leiden, in seinem furchtbaren Todeskampf in Gethsemane Blut geschwitzt hat
(“Es wurde aber sein Schweiß wie große Blutstropfen, die zur Erde
fielen.” - Luk. 22:44), und dies wird von hervorragenden Ärzten als
eine Krankheit bezeichnet, die, obwohl sehr selten, auch schon bei anderen
Menschen konstatiert worden sei. Es sei dies eine Folge größter nervöser
Anstrengungen und daraus sich ergebender Schwäche. Auf seinem Gang nach
Golgatha brach er unter der Last des Kreuzes ohnmächtig zusammen, so dass
Simon von Kyrene gezwungen werden musste, ihm das Kreuz zu tragen. Am
Kreuze erfolgte sein Tod auch viel rascher als es sonst bei Gekreuzigten
der Fall war, weil ihm, wie behauptet wird, buchstäblich der Fall war,
weil ihm, wie behauptet wird, buchstäblich das Herz gebrochen, d.h. seine
Herzmuskeln zerrissen seien, was aus dem Umstand geschlossen wird, dass
Blut und Wasser zugleich aus der Speerwunde floss. Aus all diesen
Tatsachen sehen wir, dass unser Herr nicht jene Kraftfülle offenbarte,
wie wir sie in Adam, dem ersten vollkommenen Menschen, finden, dessen
Lebenskraft so groß war, dass er 930 Jahre zu leben vermochte. So
entsteht denn die Frage: Sind diese unleugbaren Zeichen von Schwäche
nicht ein Beweis, dass unser Herr entweder infolge erblicher Belastung
oder irgend einer anderen Ursache nicht die volle Kraft eines vollkommenen
Menschen besaß, das er mithin ein unvollkommener Mensch war?
Oberflächlich
betrachtet, scheint es in der Tat so zu sein; und einzig im Worte Gottes können
wir eine für uns selbst und die, welche wir belehren können, genügende
Erklärung finden für diese scheinbare Ungereimtheit, dass nämlich unser
Herr trotz der auf ihm ruhenden Schwäche und Krankheiten dennoch heilig,
schuldlos, unbefleckt und von den Sündern abgesondert war. Den Schlüssel
zu dieser Erklärung gibt uns besonders die oben angeführte Stelle aus
Jesaja 53 in die Hand. Der Prophet schildert uns, wie der Messias
scheinbar wie alle übrigen Glieder des Menschengeschlechtes von Gott
geschlagen und unter den Fluch des Todes gestellt sein werde, er geht aber
weiter und beweist, dass das nur so scheinen werde, indem derselbe für
unsere und nicht für seine eigenen Sünden leide. Seine Schwachheiten
kamen daher, dass er unsere Schmerzen auf sich genommen und die Last
unserer Sorgen getragen hat; und sein Tod war die Folge davon, dass er
sich an unserer Statt unter die Strafe des göttlichen Gesetzes stellte,
er, “der Gerechte, für die Ungerechten”, damit er uns zu Gott zurückbringen
möchte. Den Standpunkt des fleischlichen Israel am ersten Advent
einnehmend, sagt der Prophet: Wir hielten ihn aber für einen, der von
Gott geschlagen, bestraft und niedergebeugt worden. Doch verurteilt er
diese Ansicht als unrichtig, indem er verbessernd beifügt: “Doch um
unserer Übertretungen ward er verwundet, um unserer Sünden willen ward
er geschlagen.” Und dadurch, dass die Strafe unserer Sünden auf ihm
lag, verschaffte er uns Frieden mit Gott; und unsere Heilung verdanken wir
seinen Wunden.
Matthäus
8:16, 17 macht uns aufmerksam auf die Erfüllung gerade dieser Verheißung,
indem es da heißt: “Sie brachten viele Besessene zu ihm, und er trieb
die Geister aus mit einem Worte, und er heilte alle Leidenden, damit erfüllt
würde, was durch Jesaja den Propheten geredet ist, welcher spricht: Er
selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten.”
Der
Zusammenhang zwischen den Krankenheilungen unseres Herrn und dem
Aufsichnehmen unserer Schwachheiten wird von den meisten, die diese Stelle
lesen, kaum bemerkt. Meist wird angenommen, unser Herr habe einfach eine
Macht zu heilen ausgeübt, die ihm gar nichts gekostet; er habe aus einer
geistigen, unsichtbaren Quelle eine unerschöpfliche Kraft bezogen, Kraft
derer er alle möglichen Wunder zu tun vermochte, ohne dass dabei seine
eigene Lebenskraft in Anspruch oder Mitleidenschaft gezogen worden wäre.
Wir
stellen durchaus nicht in Abrede, dass die in reichstem Maße auf unserem
Erlöser ruhende “Kraft des Höchsten” denselben befähigt hat, manche
übernatürlichen Dinge zu tun, und zwar ohne, dass das ihn in irgend
einer Weise angegriffen hätte. Wir bezweifeln auch gar nicht, dass er von
dieser übernatürlichen Kraft gelegentlich Gebrauch machte, wie z.B. an
der Hochzeit zu Kanaa, wo er Wasser in Wein verwandelte, oder an den
Speisungen der 4 und 5 Tausend. Was aber die Krankenheilungen anbetrifft,
so gibt uns die Schrift deutlich zu verstehen, dass dieselben nicht durch
eine ihm zu Gebote stehende übermenschliche Kraft zustande gekommen
seien, sondern im Gegenteil dadurch, dass ein Teil seiner eigenen
Lebenskraft auf die Kranken übertragen wurde. Je größer also die Zahl
derer war, die er heilte, um so größer war auch sein Verlust an eigener
Lebenskraft. Zum Beweis hierfür lies die Erzählung vom blutflüssigen
Weibe (Mark. 5:25-34), welches 12 Jahre an Blutverlust gelitten und
manches von den vielen Ärzten ertragen und dafür ihre ganze Habe
hergegeben hatte, ohne jedoch Besserung zu finden; im Gegenteil, schlimmer
war es geworden. Da drängte sie sich glaubensvoll an den Herrn Jesum
heran, indem sie sich sagt: “Wenn ich nur seine Kleider anrühre, so
werde ich geheilt werden.” Und weiter lesen wir: “Und alsbald
vertrocknete der Quell ihres Blutes, und sie erkannte an ihrem Leibe, dass
sie von der Plage geheilt war. Und alsbald erkannte Jesus in sich selbst
die Kraft, die von ihm gegangen war, wandte sich um in der Volksmenge und
sprach: Wer hat meine Kleider berührt? Und seine Jünger sprachen zu ihm:
Du siehst, dass die Volksmenge dich drängt, und du sprichst: Wer hat mich
berührt? Und er blickte umher, um sie zu sehen, die dieses getan hatte,
und er sprach zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich geheilt, gehe hin in
Frieden und sei gesund von deiner Plage.”
Und
ganz allgemein berichtet Lukas (6:19): “Und die ganze Volksmenge suchte
ihn anzurühren, denn es ging Kraft von ihm aus, und er heilte sie
alle.” In diesem Sinne also hat unser lieber Heiland die Schwachheiten
der Menschheit auf sich geladen, in diesem Sinne trug er unsere
Krankheiten. Und die Folge dieses täglichen Abgebens eigener Lebenskraft
zur Heilung anderer war die allmähliche Aufzehrung seiner Lebenskraft,
wozu das beständige Reisen und Predigen während den 3½ Jahren auch das
ihrige beitrugen. Dieses Tragen fremden Leidens erscheint uns weniger
seltsam, wenn wir an unsere eigenen Erfahrungen denken. Wer unter uns, der
mit der Gabe des Mitleides gesegnet ist, hat nicht zu Zeiten an sich
selbst empfunden, wenigstens in beschränktem Maße, dass es einem Freunde
möglich ist, die Leiden eines Freundes mit zutragen, durch dieses Mitgefühl
dem Leidenden einige Erleichterung zu verschaffen, bis zu einem gewissen
Grade Lebenskraft auf ihn zu übertragen und die auf sein Gemüt drückende
Last leichter erscheinen zu lassen? Solch ein hilfreicher Einfluss, solch
ein Mitgefühl der Leiden anderer hängt aber sehr viel von dem Zutrauen,
der Zuneigung ab, welche die Kranken und Betrübten den sie Besuchenden
entgegen bringen.
Ja
noch mehr, wir wissen, dass gewisse Tiere sogar mehr oder weniger dem
Menschen zugetan sind. Die Taube ist es z.B. in sehr hohem Grade und galt,
als eines der sanftesten Tiere, schon in der mosaischen Heilsordnung als
ein Vorbild unseres treuen Erlösers. Es ist nun schon öfters beobachtet
worden, dass Kranke eine gewisse Erleichterung ihres Leidens verspürten,
wenn Tauben in ihr Zimmer gebracht wurden. Dieselben nehmen, vielleicht
wegen ihrer mitfühlenden Natur, einen Teil des betreffenden Leidens auf
sich und geben dafür einen Teil ihrer Lebenskraft den Leidenden ab. Dies
erkennt man nämlich daran, dass die Tauben selber Krankheitserscheinungen
aufweisen (z.B. Rheumatismus), während der Kranke sich erleichtert fühlt.
Bedenken wir nun, dass unsere Fähigkeit zu lieben und mitzufühlen nur
ein Rest ist, der uns nach 6000-jährigen Dauer des Falles der Menschheit
noch geblieben ist, dass unser Heiland dagegen vollkommen war und deshalb
ein unbeschränktes Mitgefühl, eine unbegrenzte Liebe besitzen und ausüben
konnte, dann begreifen wir ungefähr, wie, d.h. auf welche Weise er unsere
Schwachheiten empfinden konnte. Sein liebendes Herz wurde gerührt, weil
seine Natur fein, vollkommen und gefühlvoll - nicht durch Sünde und
ererbte oder eigene Selbstsucht verhärtet war. Darum lesen wir von ihm:
“Er ward innerlich (von Mitleid) bewegt”; und wiederum: “Es jammerte
ihn des Volkes”; und am Grabe des Lazarus “gingen ihm selbst die Augen
über”, als er Maria, Martha und die Juden weinen sah. Das waren nicht
Zeichen von Schwäche; im Gegenteil! Denn der wahre Charakter des zum
Ebenbild Gottes erschaffenen, vollkommenen Menschen ist nicht hart,
herzlos und rau, sondern freundlich, liebevoll, teilnehmend. Aus all
diesen Zügen aus dem Leben Jesu geht hervor, dass der, welcher redete,
“wie nie ein Mensch geredet hat”, auch die Trübsal und Leiden, die
der Sündenfall uns gebracht, mitzufühlen vermochte, wie kein Glied
unseres gefallenen Geschlechtes es vermag.
Das
ist indessen nicht alles; beim bloßen Mitgefühl blieb es nicht. Unser
Herr kam nicht in diese Welt, um bloß eine Macht oder Kraft auszuüben,
die ihn selbst nichts kostete, sondern, wie er selbst erklärt: “Dass er
diene und gebe sein Leben zum Lösegeld für viele.” Freilich, der Sünde
Sold ist nicht Leiden, sondern der Tod. Folglich hätte unser Herr durch
bloßes Leiden unsere Rechnung nicht ausgeglichen. Es war also unbedingt
notwendig, dass “Christus Jesus den Tod schmeckte für jedermann”, und
so lesen wir denn auch: “Christus ist gestorben für unsere Sünden nach
den Schriften.” (1. Kor. 15:3) Wenn er also die Stelle des Sünders
annahm, so musste er folgerichtig auch alles durchkosten, was der Fluch über
den Sünder gebracht hat - die Todesstrafe. Und in dem Maße, wie die
Menschheit durch fortwährenden Verlust an Lebenskraft (infolge von
Schwachheit und vererbter Krankheit) dahin stirbt, musste auch unser Herr
all diese Vorboten des Todes über sich gehen lassen. Da er aber nun kein
Sünder war, so müssen die von ihm erlittenen Strafen offenbar um der
anderen Menschen willen auf ihm gelegen haben, weil er an den Platz der Sünder
getreten ist, um für uns die Streiche gerechter Strafe zu tragen.
Was
das Tragen unserer Schwächen, Schmerzen und Krankheiten anbetrifft, das
hat unser Herr in einer Weise getan, wie es den Lebenden nicht besser hätte
zugute kommen können, indem er während den 3½ Jahren seiner Amtsdauer
Tag für Tag von seiner Lebenskraft abgab, und zwar an solche, die seine
Beweggründe, seine Liebe und Gnade erst nicht zu würdigen wussten. So
lesen wir: “Dadurch, dass er seine Seele ausgeschüttet hat in den
Tod”, hat “seine Seele das Schuldopfer gestellt” (Jes. 53:10, 12).
Und wir können deutlich sehen, wie unser Herr von der Zeit seiner Weihung
an (als er 30 Jahre alt, im Jordan von Johannes getauft wurde) bis hinab
nach Golgatha beständig “seine Seele ausgeschüttet” hat, indem er
fortwährend Lebenskraft von sich auf diejenigen ausgehen ließ, welchen
er helfen, welche er heilen wollte. Und wenn dies alles für das Lösegeld
auch nicht hätte genügen können, so war es doch ein Teil des Sterbens,
durch das unser Erretter hatte gehen müssen, und das am Kreuz auf
Golgatha seinen Endpunkt erreichte, als er ausrief, “Es ist
vollbracht”, und der letzte Lebensfunke von ihm ausging.
Fast
möchte es scheinen, als sei es für unseren Herrn ebenso nötig gewesen,
gleichermaßen seine Lebenskraft zu opfern, unser allmähliches
Dahinsterben zu kosten, als dass es für ihn nötig war, einmal am Kreuze,
wenn auch nur einige Augenblicke, die vollständige Trennung des Sünders
vom himmlischen Vater und die Entziehung aller übermenschlichen Hilfe zu
schmecken, als er ausrief: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen!” Als des Sünders Stellvertreter musste er des Sünders
Strafe in allen ihren Einzelheiten erdulden, und nicht ehe dies geschehen,
war der im Opfer bestehende Teil seiner Aufgabe gelöst; nicht bevor er
das alles im Glauben ertragen hatte, waren die verschiedenen Prüfungen
erfolgreich bestanden, wodurch er sich nach des Vaters Willen würdig
erweisen sollte, zum “Herzog unserer Seligkeit” erhoben zu werden,
hoch erhöht über alle Engel, Fürstentümer und Gewalten, als
Mitteilhaber an des Vaters Herrschaft über das Weltall.
All
diese Erfahrungen, durch die der himmlische Vater seinen geliebten Sohn
gehen ließ, ehe er ihn zur Rechten seiner Majestät erhöhte und ihm das
große Werk der Segnung aller Geschlechter auf Erden anvertraute, waren
aber nicht bloß dazu geeignet, den eingeborenen Sohn, den Logos, in
seiner Treue zu prüfen, sondern sie waren auch, wie die Schrift uns
lehrt, notwendig, um unseren Herrn zu befähigen, das Elend derer
mitzuempfinden, welche er so erkauft hatte - Mitgefühl zu beweisen und
Hilfe darzubieten allen denen, die durch ihn zu voller Gemeinschaft mit
Gott zurückzukehren begehren: die Herauswahl im gegenwärtigen, die Welt
im Millenniums-Zeitalter, “auf dass er in den Sachen mit Gott ein
barmherziger und treuer Hohepriester sein möchte” - “der in allem
versucht worden ist in gleicher Weise (wie wir)” - “der Nachsicht zu
haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden, indem auch er selbst mit
Schwachheiten umgeben ist”. “Daher vermag er auch völlig zu erretten,
die durch ihn zu Gott kommen.” Wahrlich: “Ein solcher Hohepriester
geziemte uns: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern
und höher als die Himmel.” - Hebr. 2:17, 18; 4:15, 16; 5:2; 7:25, 26