SCHRIFTSTUDIEN
BAND
5 - DIE
VERSÖHNUNG DES MENSCHEN MIT GOTT
Studie
7
Der
Mittler der Versöhnung
“Der
Sohn des Menschen”
Was bedeutet dieser Titel?
—
Was nicht? —
Der Titel ist ehrenvoll und gebührt Ihm und keinem anderen. —
Wie die Welt den “Sohn des Menschen beurteilt (Ansichten des Pilatus,
Rousseaus und Napoleons). —
Die Bedeutung der Schriftstellen Jes. 53:2;
52:14, 15. —
Was bedeuten die Aussagen: “Er hatte kein Ansehen, dass wir
seiner begehrt hätten”, “So entstellt war sein Ansehen”, “Der
Vornehmste unter Zehntausenden” und “Alles an ihm ist lieblich”?
Unter
den zahlreichen Titeln, mit denen unser Herr bezeichnet wird, ist einer,
der am häufigsten von ihm selbst gebraucht wird, nämlich “der Sohn des
Menschen”. Es gibt Leute, welche diese Bezeichnung als einen Beweis dafür
ansehen, dass unser Herr selber Joseph als seinen Vater anerkannt habe.
Dies ist aber durchaus irrig. Der Titel wird nicht nur gebraucht, um den
Menschen Jesum Christum zu bezeichnen, sondern ebenso mit Bezug auf seine
jetzige erhöhte Natur und Stellung. Darum sind nun andere ins
entgegengesetzte Extrem verfallen und behaupten, der Titel bedeute, unser
Herr sei mit seiner menschlichen Natur jetzt im Himmel. Auch diese
Anschauung ist, wie wir zu zeigen versuchen werden, ohne Stütze und
beruht auf einer unrichtigen Würdigung des Titels “Sohn des Menschen”.
Vorläufig nur so viel, dass die Schrift auf das nachdrücklichste lehrt,
dass die Erniedrigung unseres Herrn zur menschlichen Natur nicht bleibend
war, dass sie vielmehr nur stattfand, um die Menschheit erlösen, das Sühnegeld
für die Menschen zahlen und hierbei eine Probe der eigenen Ergebenheit
dem Vater gegenüber ablegen zu können, dass der Herr alsdann sofort nach
bestandener Prüfung hoch erhöht wurde, nicht nur auf die Ehrenstufe, auf
der er schon beim Vater stand, ehe denn die Welt war, sondern auf eine
noch weit höhere Ehrenstufe, in welcher er alle Engel, Fürstlichkeiten
und Gewalten hoch überragt, auf die Stufe der göttlichen Natur, zur
rechten Hand der himmlischen Herrlichkeit , der höchsten Ehre, die
Gott-Vater zu vergeben hat.
Merke
diesbezüglich folgende Schriftstellen:
“In
der Vollendung (am Ende) des Zeitalters wird der Sohn des Menschen seine
Engel senden”. - Matth. 13:40, 41
“Also
wird auch die Ankunft (Parousia, Gegenwart) des Sohnes des Menschen sein”.
- Matth. 24:27, 37
“Wenn
aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle
heiligen Engel mit ihm”. - Matth. 25:31
“Dessen
wird sich auch der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommen wird in der
Herrlichkeit seines Vaters”. - Mark. 8:38
“Wenn
ihr nun den Sohn des Menschen dahin auffahren sehen werdet, wo er zuvor
war?” - Joh. 6:62
“Der
aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen.” Joh. 3:13 (“Der
im Himmel ist” fehlt in alten Manuskripten)
Diese
Schriftstellen identifizieren den Sohn des Menschen sowohl mit dem Herrn
der Herrlichkeit, der Jesus jetzt ist, als mit dem Menschen, der Jesus
war, und der sich selbst opferte, und mit dem Logos, der vom Himmel
hernieder kam und Fleisch wurde. Die Juden ihrerseits dachten nie und
nimmer, dass der Titel “Sohn des Menschen” etwa Sohn Joseph oder eines
anderen Menschen bedeute; des ist der Umstand Zeuge, dass sie Joh. 12:34
fragten: “Wir haben aus dem Gesetz (Alte Testament) gehört, dass der
Christus bleibe in Ewigkeit, und wie sagst du, dass der Sohn des Menschen
erhöht werden müsse? Wer ist dieser Sohn des Menschen?” Daraus ergibt
sich, dass die Juden im “Sohn des Menschen” ihren erhofften Messias
sahen, zum großen Teil gestützt auf die Weissagung Daniels (Dan. 7:13,
14): “Ich schaute in den Gesichten der Nacht, und siehe, mit den Wolken
des Himmels kam einer wie eines Menschen Sohn, und er kam zu den Alten an
Tagen und wurde vor denselben gebracht, und ihm ward Herrschaft und
Herrlichkeit und Königtum gegeben, und alle Völker, Völkerschaften und
Sprachen dienten ihm; seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die
nicht vergehen, und sein Königtum ein solches, das nie zerstört werden
wird.” Mit dieser Erscheinung identifiziert sich unser Herr selbst in
seiner Offenbarung, wo wir lesen (Offb. 14:14): “Gleich einem Sohn eines
Menschen, welcher auf seinem Haupt eine goldene Krone und in seiner Hand
eine scharfe Sichel hatte”, der Ernter in der Erntezeit des
Evangeliums-Zeitalters.
Gleichwohl
entsteht auch für diejenigen, die sicher sind, dass der Titel “Sohn des
Menschen” nicht Josephs Sohn bedeutet, und dass er die menschliche Natur
nur zum Zweck, sie zu opfern, angenommen, dass er dieselbe auf immer dahin
gegeben und jetzt ein lebendig machender Geist höchster Ordnung ist (Hebr.
2:9, 16; 1. Petr. 3:18; Joh. 6:51; Phil. 2:9), die Frage: Warum erwählte
der Herr gerade diesen Titel? Haben wir nicht alle Ursache, zu vermuten,
dass hierfür ein besonderer Grund vorliegt, ohne welchen der Titel nicht
gebraucht würde, da doch jeder von den Titeln unseres Herrn eine
besondere Bedeutung erhält, sobald er verstanden ist?
Nun
besteht in der Tat ein sehr wichtiger Grund für den Gebrauch dieses
Titels. Es ist ein sehr ehrenvoller Titel, denn er erinnert ewiglich an
den großen Sieg dessen, der ihn getragen; an den glaubens- und
demutsvollen Gehorsam allen Anforderungen des himmlischen Vaters gegenüber,
an den Gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz, an jenen Gehorsam, durch
den er sich den Anspruch auf all seine gegenwärtigen und zukünftigen
Ehren und Würden und Gewalten, auf Ansehen und die göttliche Natur
erwarb. Durch diesen Titel, “Sohn des Menschen”, werden Engel und
Menschen erinnert an den Beweis von Demut, den der Eingeborene vom Vater
erbrachte, und an den in seinem Falle zur Anwendung gebrachten
Rechtsgrundsatz in der göttlichen Staatsordnung, dass, wer sich selbst
erhöht, erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, erhöht werden
soll. So spricht denn dieser Titel jedes Mal, wenn er gebraucht wird, Bände
voller Lehren für alle, die von Gott werden gelehrt werden, und die ihn
zu ehren und zu tun wünschen, was seinen Augen wohl gefällt.
In
demselben Sinne, in welchem unser Herr zum Samen Davids, oder zum Samen
Abrahams, Isaaks und Jakobs gemacht worden, war er auch der Same Adams,
durch Mutter Eva, doch, wie wir gesehen, frei von Erbsünde. “Des Weibes
Same” steht 1. Mose 3:15 im Gegensatz zum “Samen der Schlange”;
jedoch beweist die Stelle nicht etwa, dass Eva eines anderen Samens
teilhaftig geworden wäre als des Samens ihres Gatten Adam. Hierin liegt,
wenn wir recht sehen, die Erklärung des Titels “Sohn des Menschen”.
Adam
war als Anfang des Geschlechts, als dessen Vater geschaffen und bestimmt;
aber infolge seines Ungehorsams verlor er die Fähigkeit, seiner
Nachkommenschaft dauerhaftes Leben zu vermitteln. Aber die göttliche
Verheißung erblickte schon von Ferne die Zeit, in welcher der Messias,
Adams Natur gleich geworden, Adam und seine ganze Nachkommenschaft zurückkaufen
würde. Adam war der Mensch, wie ihn Gott haben wollte, er war der
Stammvater des Geschlechts, und sein war der Anspruch auf die Herrschaft
über die Erde. So lesen wir Psalm 8:4-8: “Was ist der Mensch, dass du
sein Gedenkst, und des Menschen Sohn, dass du auf ihn acht hast? Ein wenig
geringer hast du ihn gemacht als die Engel, und mit Herrlichkeit und
Pracht hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die
Werke deiner Hände: Schafe und Rinder alle und auch die Tiere des Feldes,
das Gevögel des Himmels und die Fische des Meeres, was die Pfade der
Meere durchwandert.”
Dieses
Anrecht auf die Erde und die Herrschaft über dieselbe ward verwirkt durch
den Fall; bildet aber einen integrierenden Bestandteil des durch das große
Sühnopfer zurückgekauften Gutes. Wie geschrieben steht (Micha 4:8):
“Zu dir wird kommen, O du Herdenturm, (sogar) die frühere Herrschaft.”
So beruhte denn die Hoffnung der Welt, nach Gottes Anordnung, auf dem
Kommen eines großen Sohnes und Erben Adams, eines großen Sohnes
Abrahams, eines großen Sohnes Davids, eines großen Sohnes Marias. Doch
setzt dies nicht voraus, dass das Leben dieses Sohnes von Adam, Abraham,
David oder der Maria kommen sollte. Wie wir schon gesehen, galt nach göttlicher
Staatsordnung, ein Schwiegersohn als Glied der Familie, berechtigt, ein
verwirktes Eigentum an sich zu ziehen. (Ruth 4:1-6) Im Falle unseres Herrn
stammte nur, wie wir gesehen, der menschliche Leib, nicht aber das Leben
vom Menschen; das Leben stammte aus Gott und war dasjenige des vordem als
der Logos bekannten Wesens.
Je
mehr wir in der Schrift darüber nachforschen, um so deutlicher wird uns
das Vorhergehende; denn wer griechisch kann, wird sich selbst von der
Tatsache überzeugen können, dass der Herr, wenn er seinen hier
besprochenen Titel braucht, ihm stets die Form “der Sohn des Menschen”
gibt, wie sie in den verbesserten Bibel-Übersetzungen jetzt Aufnahme
gefunden hat. Und unser Herr hat ein Anrecht auf diesen Titel. Wie Adam
allein vollkommen, alle anderen seines Geschlechtes aber gefallen waren
mit Ausnahme dieses einen Sohnes, der Adams Natur annahm, um der Rückkäufer
all des von Adam verlorenen Besitzes werden zu können, so gebührte Jesu
der Titel “Der Sohn des (vollkommenen) Menschen” sowohl, während er
sein Rückkaufswerk ausführte, als nachdem er den Preis für die Erlösung
des Geschlechtes vom Fluch, vom Todesurteil erlegt hatte. Gleicherweise
gebührt ihm der Titel durch das ganze Evangeliums-Zeitalter hindurch, während
dessen er seine Mitarbeiter an dem großen Wiederherstellungswerk heraus wählt,
und wird ihm der Titel gebühren während seiner 1000-jährigen Herrschaft,
wenn er als der (nun hoch erhöhte und zur göttlichen Natur gewandelte)
Sohn des Menschen (Adam) sein Wiederherstellungswerk an dem von ihm zurückgekauften
(ausgelösten) Besitztum hinausführen wird. - Eph. 1:14
“Der
Mensch Jesus Christus” in den Augen der Ungläubigen
Nicht
nur die überzeugten Nachfolger unseres Herrn Jesu Christi haben seine
Weisheit und Güte anerkannt und bemerkt, dass er “voll war aller Fülle
Gottes”, sondern selbst seine Gegner erkannten ihn als den Durchschnitt
der Menschheit weit überragend an. So lesen wir schon Luk. 4:22: “Und
alle gaben ihm Zeugnis und verwunderten sich über die Worte der Gnade,
die aus seinem Mund hervorgingen”, und Joh. 7:46: “Die Diener (des
Hohenpriesters) antworteten: Niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser
Mensch”. Pilatus auch war es leid, das Leben des edelsten Juden, den er
je gesehen, zu zerstören; daher versuchte er als letztes Mittel, um Jesum
zu retten, die Abneigung der Volksmenge, von der er sah, dass sie von den
Schriftgelehrten und Pharisäern aus Neid und Missgunst ob des Herrn
Volkstümlichkeit aufgeregt war, durch Erregung von Mitleid und
Bewunderung zu brechen. Darum ließ er ihn schließlich noch vorführen
und rief dann vor der Volksmenge bewundernd aus, “Sehet, welch ein
Mensch!” als hätte er sagen wollen: Der Mann, dessen Kreuzigung ihr von
mir fordert, ist nicht nur der hervorragendste aller Juden, sondern auch
der hervorragendste unter allen Menschen! So spricht denn auch Johannes
von der Erscheinung des Mensch gewordenen Logos: “Wir haben seine
Herrlichkeit geschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit.” - Joh. 1:14
Hier
möge das bekannte und oft angeführte Lob “des Sohnes des Menschen”
und seiner Lehren, erhoben durch den französischen Philosophen Rousseau,
seine Stelle finden:
“Wie
unbedeutend sind doch die Bücher der Philosophen bei all ihrem Aufwand an
Worten, im Vergleich mit den Evangelien! Können Schriften, die
gleichzeitig so erhaben und einfach sind, Menschenwerk sein!? Kann Er, des
Leben sie erzählen, nur ein Mensch gewesen sein? Finden wir an ihm
Charakterzüge, die einem Enthusiasten oder einem ehrgeizigen Streben
geziemen würden? Welche Zartheit, welche Reinheit bei all seinem Handeln!
Welch eine rührende Milde bei all seinen Lehren! Welch eine Erhabenheit
in seinen Grundlehrsätzen! Welch tiefe Weisheit in seinen Worten! Welche
Geistesgegenwart, welch feine Schlagfertigkeit in seinen Antworten auf
verfängliche Fragen! Welch Selbstbeherrschung! Wo ist der Mann, wo der
Weise, der so zu handeln, zu leiden und zu sterben versteht, ohne Schwäche
und ohne Gepränge? Meine Freunde, so etwas können Menschen nicht
erfinden, und was von Sokrates berichtet wird, ist weniger gut bezeugt,
als von Jesus berichtet wird, und doch zweifelt niemand daran. Niemals hätten
jene Juden von sich aus diesen Ton getroffen oder so hoch sittlich gedacht.
Und das Evangelium trägt so sehr und ausgesprochen und unnachahmlich das
Gepräge der Wahrhaftigkeit, dass, wären seine Verfasser Lügner und
Erfinder, sie noch wunderbarer wären als Er, den sie beschreiben.”
Napoleon
der Große soll einmal vom “Sohne des Menschen” folgendes gesagt haben:
“Von
Anfang bis zu Ende ist Jesus der gleiche; ob erhaben oder einfach,
unendlich streng oder unendlich mild, stets ist er derselbe. In seinem
ganzen öffentlichen Leben ist nie ein Fehler an ihm gefunden worden. Die
Klugheit seines Benehmens erwirbt sich unsere Bewunderung durch die
wunderbare Verschmelzung von Kraft und Milde. In Wort und Tat ist er
erleuchtet, konsequent und ruhig. Erhabenheit gilt als Eigenschaft der
Gottheit; als was sollen wir denn ihn bezeichnen, in dessen Charakter sich
alle Elemente der Erhabenheit zusammenfinden. Als Menschenkenner sage ich:
Jesus war nicht ein Mensch! Alles an ihm setzt in Erstaunen. Er ist mit
keinem anderen Wesen auf der Welt vergleichbar; er ist ein Wesen für sich.
Seine Gedanken und seine Gefühle, die von ihm verkündete Wahrheit, seine
Art im Umgang, all dies geht weit über Menschliches, Natürliches hinaus.
Seine Geburt und sein Lebenslauf, die Tiefe seiner Lehre, welche alle
Schwierigkeiten beseitigt oder befriedigend löst, sein Evangelium, dessen
geheimnisvolle Eigenheit und Erscheinung, Einfluss und Ausbreitung durch
alle Jahrhunderte und über alle Reiche dieser Welt: dies alles ist für
mich ein Wunder, ein unergründliches Geheimnis. Ich sehe da nichts
Menschliches. Je näher ich trete, je genauer ich untersuche, alles bleibt
über jeden Vergleich erhaben, von einer Größe, die mich erdrückt.
Umsonst denke ich darüber nach; alles bleibt unerklärlich! Nie werdet
ihr auf ein Leben hinweisen können, wie seines gewesen ist.”
Ja
wohl, die Wahrheit ist für den natürlichen Menschen befremdlicher als
alle Vorstellungen unserer Einbildungskraft, und der vollkommene Mensch
Christus Jesus, gesalbt mit dem Geist des Allerhöchsten, war so
verschieden von den gefallenen Wesen derjenigen Natur, die er annahm, um
jene Wesen zu erkaufen, dass die Welt wohl zu entschuldigen ist, wenn sie
fragt , ob er denn nicht mehr gewesen als ein Mensch. Und gewiss, er war
mehr, viel mehr als ein gewöhnlicher Mensch, viel mehr als ein sündiger
Mensch; er war eben abgetrennt von den Sündern, er war ein vollkommener
Mensch und als solcher das vollkommene Ebenbild des unsichtbaren Gottes.
“Er
hatte kein Ansehen, dass wir seiner begehrt hätten.”
“Er ist wie ein Reis vor ihm aufgeschlossen,
und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und
keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte er kein Ansehen, dass wir
seiner begehrt hätten. Er war verachtet und verlassen von den Menschen,
ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man
das Angesicht verbirgt.” - Jes. 53:2, 3
Man
hat uns wegen dieser Stelle schon vermutet, dass die Bibel lehre, die
Erscheinung unseres Herrn Jesus sei weniger angenehm gewesen als die
anderer Menschen, und hat daraus geschlossen, die Bibel beweise, dass er
nicht “abgesondert von Sündern” gewesen sei, sondern vielmehr mit
Erbsünde und den körperlichen Nachteilen, die damit verbunden, behaftet
gewesen sei. Wir können jedoch dieser Auslegung nicht zustimmen, weil sie
allen anderen Zeugnissen der Schrift widersprechen würde, sondern sind im
Gegenteil geneigt, diese Stelle mit den anderen Zeugnissen in Übereinstimmung
zu bringen, wenn dies möglich ist, ohne dass dabei von der richtigen
Methode beim Interpretieren abgewichen wird. Und wir halten dafür, dass
dies in der Tat möglich ist und suchen es im Folgenden zu zeigen.
Ansehen,
Schönheit, Schmuck bedeutete je nach den Idealen der Völker oder ein und
desselben Volkes, aber unter verschiedenen Umständen, verschiedene Dinge.
Das Schönheitsideal der Wilden zum Beispiel ist den Kulturvölkern ein
Greuel. Der indianische Krieger, der sich rot und gelb bemalt, sich mit
Muscheln behängt, gefärbte Federn aufsteckt und am Gürtel blutige Kopfhäute
hängen hat, erscheint gewissen Wilden als Ideal. Der Faustkämpfer in
seiner Zurüstung zum Wettkampf ist andern das Ideal der männlichen
Gestalt, sofern sie in sogenanntem Sport von Belang ist. Wieder anderen
erscheint der reich aufgeputzte Torreador (Stierkämpfer), welcher von der
Menge bewundert und beklatscht wird, als die schönste männliche
Erscheinung. So wechseln eben die Ideale je nach Zeit und Umständen. Da
nun obige Schriftstelle sich auf die erste Gegenwart unseres Herrn Jesus
bezieht, so bedeutet sie einfach, dass er damals dem Ideal nicht entsprach,
das den Juden als Messias vorgeschwebt. Dies geht zur Evidenz hervor aus
ihrem Betragen vor Pilatus. Diesem entrang die Erscheinung Jesu als ein
bewunderndes “Seht, welch ein Mensch!”; jenen aber erschien er des
Kreuzes wert, und sein Anblick machte sie rasend. “Kreuzige, kreuzige!
Wir haben keinen König denn den Kaiser!”
Wir
müssen uns daran erinnern, dass zur Zeit der ersten Gegenwart Jesu das jüdische
Volk unter das Joch der Römerherrschaft gebeugt war, ja dass es schon
seit sechs Jahrhunderten “von den Nationen zertreten war”. Wir müssen
ferner im Gedächtnis halten, dass die Juden auf Grund der Abraham, Isaak
und Jakob zu teil gewordenen, von allen Propheten wiederholten Verheißungen
hofften, Gott werde ihnen in zuvor bestimmter Zeit seinen Gesalbten
schicken, einen größeren Gesetzgeber als Mose, einen größeren
Feldherrn als Josua, einen größeren König als David, und dass gerade zu
jener Zeit Israel jenen Messias erwartete, wie sie ihn sich vorstellten
(und nicht Israel allein, sondern alle Menschen überhaupt, wovon die
Berichte aus jener Zeit Zeugnis geben). Aber als ihnen nun Jesus von
Nazareth als jener Messias verkündigt wurde, da war seine Erscheinung so
ganz anders, als sie sich eingebildet hatten, dass ihre hochmütigen
Herzen sich seiner schämten und sie ihr Antlitz vor ihm verbargen (ihm
den Rücken kehrten), insbesondere die tonangebenden und vornehmen Leute,
deren Führung sich das gemeine Volk anvertraute. - Luk. 3:15
Sie
hatten einen großen Heerführer, einen großen König und einen großen
Gesetzgeber in einer Person erwartet, ein achtungsgebietendes,
hochfahrendes, ehrgeiziges, stolzes, eigenwilliges Wesen, jeder Zoll ein
Gebieter, jedes Wort ein Befehl. Dies waren ihnen die unentbehrlichen
Eigenschaften für einen König, der die Welt erobern und Israel zur
herrschenden Nation machen sollte. Das stolze, anmaßende Wesen des von
den Römern über sie gesetzten Königs Herodes, die Art der römischen
Statthalter, Befehlshaber und subaltern Offiziere vor Augen, dachten sie
sich, der Kaiser in Rom müsse alle diese Eigenschaften in noch höherem
Grade besitzen, da er sich doch zum Herrscher über das Reich zu erheben
vermochte. Das war nun ihr Maßstab, den sie an ihren erträumten Messias
legten; der musste den Kaiser in Rom in seiner Art noch übertreffen, wenn
er die noch größere Herrlichkeit der auf die Erde verpflanzten
Gottesherrschaft würdig vertreten sollte.
Kein
Wunder also, dass, bei solchen Erwartungen, sie nicht darauf vorbereitet
waren, den sanft- und demütigen Nazarener anzuerkennen, der der Zöllner
und Sünder Geselle war, und des einzige Waffe zur Eroberung der Welt das
“Schwert seines Mundes” war. Kein Wunder denn, dass sie, als er ihnen
als die Hoffnung Israels, als König der Juden, als Messias vorgestellt
wurde, ihm den Rücken kehrten. Kein Wunder, dass sie sich in ihren seit
langer Zeit gehegten, verkehrten Hoffnungen schmerzlich enttäuscht sahen.
Kein Wunder, dass sie sich schämten, diesen Jesus als König der Juden
anzuerkennen, und sagten: “Er hat nicht die Art Schönheit und Ehrfurcht
gebietende Erscheinung, die wir wünschten; er ist nicht der Kriegs- und
Staatsmann, der König, dessen wir bedürfen; er sieht gar nicht so aus,
als ob er unseres Volkes lang gehegte Hoffnungen erfüllen könnte. Gleich
einer ähnlichen Klasse unter jenen unserer Mitmenschen von heutzutage,
die nach der zweiten Gegenwart des Messias Ausschau halten, zweifelten sie
nicht daran, dass ihre auf den Überlieferungen der Alten beruhenden
Erwartungen richtig seien, und unterließen es ehrlich und ernstlich in
der Schrift zu forschen, welche sie “weise zur Errettung” gemacht
haben würde.
Uns
scheint es zweifellos, dass der Prophet diese Unerwünschtheit der
Erscheinung, diesen Mangel an Schönheit, wie die Juden sie sich
vorstellten, im Auge hatte. Es geht nicht an, die Weissagung so zu übersetzen
und auszulegen, dass sie mit den historischen Tatsachen, die anerkanntermaßen
ihre Erfüllung sind, im Widerspruch stünde, und ebenso mit den
zahlreichen Stellen in Widerspruch geriete, in denen der Messias als ein
reines Lamm Gottes, das der Welt Sünde hinweg nimmt, als heilig, ohne
Fehl und Makel, als abgetrennt von Sündern bezeichnet wird.
“So
entstellt war sein Aussehen.”
-
Jes. 52:14, 15 -
Hier
wiederum hat eine fehlerhafte Übersetzung irrige Vorstellungen betreffend
das Äußere unseres Herrn erzeugt, und doch haben selbst die oberflächlichsten
Leser der Bibel, welche etwa Angesichter von Menschen gesehen, die die
Spuren von Ausschweifungen, Krankheiten oder Unfällen trugen, sich nicht
mit dem Gedanken befreunden können, dass unseres Herrn Antlitz und Äußeres
überhaupt entstellter gewesen “als das irgend eines Menschen”. Es ist
klar, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Wie hätte sonst Pilatus ihn
bewundernd dem Volke vorstellen, wie hätte sonst die Volksmenge ihn
jubelnd als Sohn Davids begrüßen und mit dem Gedanken umgehen können,
ihn gegen seinen eigenen Willen zum König zu machen!
Welch
richtigeren und vorteilhafteren Begriff, der zudem mit dem Zeugnis der
biblischen Geschichte und mit den Anforderungen, die unser Verstand mit
Recht an ein heiliges, reines Wesen stellt, besser im Einklang steht, gibt
uns die aus Jesaja zitierte Stelle, wenn wir sie so übersetzen, wie es
die Elberfelder Übersetzung tut: “Gleichwie sich viele über dich
verwundert haben (so entstellt war sein Aussehen, mehr als irgend eines
Mannes, und seine Gestalt, mehr als der Menschenkinder), ebenso wird er
viele Nationen in Staunen setzen.” Wie seine Zeitgenossen überrascht
waren, zu sehen, dass er sich mit Dornen krönen, ins Angesicht schlagen
und speien, ans Kreuz nageln und durchbohren ließ, so haben sich spätere
Geschlechter unter allen Nationen verwundert und werden andere sich noch
wundern über die Geduld und Milde des, der so großen Widerspruch von den
Sündern gegen sich ertragen hat. (Hebr. 12:3) Dann fährt der Prophet
(Jes. 52:15) fort: “Vor ihm werden Könige erstaunen; denn was ihnen
(von anderen) nicht erzählt worden war, das werden sie (an Ihm) sehen,
und was sie nicht gehört hatten, das werden sie verstehen.” Nie haben
die Großen der Erde von einem König gehört, der sich von seinen
Untertanen solche Unwürdigkeiten freiwillig und um ihnen Gutes zu tun,
gefallen ließ. Wahrlich, “seine Liebe ist größer denn die eines
Bruders!” Kein Wunder, dass alle staunen werden - “zu seiner Zeit!”
Gleichwohl
ist es unzweifelhaft, dass unseres teuren Erlösers Antlitz Spuren von
Kummer trug, denn, wie wir gesehen haben, empfand sein mit tief wurzelndem
Mitleid erfülltes Herz etwas von unseren Schwachheiten; und diese Spuren
haben sicher immer mehr zugenommen bis zum Schluss seiner Aufgabe auf
Golgatha. Je feiner ein Organismus und sein Empfindungsvermögen, um so
schmerzlicher empfindet er Leiden. Der Anblick von Not, Krankheit, Leiden
und Verkommenheit, gegen den wir uns mehr oder weniger abhärten infolge
unseres eigenen Anteils an den Folgen des Sündenfalls und infolge unserer
beständigen Berührung mit menschlichem Weh, musste dem Vollkommenen,
Heiligen, Schuld- und Sündlosen viel, viel schmerzlicher sein. Dafür ein
Beispiel aus dem alltäglichen Leben. Wes Empfindungsvermögen durch seine
Umgebung, wie sie der Reichtum an irdischem Gut in jeder Hinsicht zu gewähren
vermag, verfeinert worden ist, dem mag, wenn er die Armenquartiere einer
großen Stadt besucht, beim Anblick der Verkommenheit, des Elends und des
Schmutzes, beim Wahrnehmen übler Gerüche, beim Vernehmen wüsten Lärms,
das Herz sich zusammen krämpfen und der Gedanke aufsteigen, wie
schrecklich für ihn das Leben unter solchen Umständen wäre, wie der Tod
ihm als Wohltat erscheinen müsste. Dann aber erblickt er vergnügt
spielende Kinder, vernimmt er den Gesang einer Waschfrau nach der Arbeit,
sieht er einen alten Mann zufrieden eine Zeitung lesen oder einen Knaben
einem alten Musikinstrument liebliche Töne zu entlocken versuchen, und
erkennt hieran, dass, wer an den Anblick des Elends, an übliche Gerüche
und Lärm gewohnt ist, viel weniger darunter zu leiden hat, als wer von
Kind auf an Besseres gewohnt ist.
Und
dennoch gibt dies Beispiel nur einen unvollkommenen Begriff von dem
Unterschied des, was der Herr beim Anblick der sündigen und leidenden
Menschheit empfand, und was wir dabei empfinden. Als ein vollkommenes
Wesen, das das Leben in himmlischer Herrlichkeit verlassen und sich selbst
erniedrigt hatte, um der Menschheit Elend mitzuerleben, ihr sein Mitleid
zu bezeugen und sie davon zu befreien, wie musste er da weit mehr als wir
das Elend der seufzenden Kreatur empfinden. Was Wunder also, wenn die Last
unserer Sorgen einen Schatten breitete über die Herrlichkeit und Schönheit
seines vollkommenen Antlitzes? Was Wunder, wenn die Berührung mit der Not
dieser Erde und sein freiwilliger Anteil an den Schwachheiten und der
Krankheit der Menschen (der ihm, wie wir gesehen, seine eigene Lebenskraft
kostete) tiefe Spuren auf sein Antlitz und Gestalt des Sohnes des Menschen
prägte! Doch können wir keinen Augenblick daran zweifeln, dass seine
Einheit und Gemeinschaft mit dem Vater, sein Erfülltsein mit dem heiligen
Geiste und das Zeugnis seines eigenen Gewissens, dass er immer tat, was in
den Augen des Vaters wohlgefällig war, dem Antlitz unseres Erlösers
einen Ausdruck des Friedens verlieh, einen Ausdruck, in dem sich Freude
mit Sorge, Unruhe mit innerem Frieden vermengte. Und die Kenntnis, die er
von dem Plane des himmlischen Vaters hatte, muss ihn befähigt haben, sich
seiner Leiden zu freuen. Wusste er doch, dass dieselben binnen kurzem
nicht nur ihm selber zum Segen, sondern auch der ganzen Erde zum Heil
ausschlagen würden.
Wenn
also auch die Sorgen der Menschen einen Schatten breiteten über sein Äußeres,
so zeigten doch sicher seine Gesichtszüge auch seinen Glauben und seine
Hoffnung und machte der Friede von Gott, der über alles Verstehen
hinausgeht, sein Herz fest und befähigte ihn, allzeit fröhlich zu sein,
selbst mitten in den Leiden, die ihm das Widersprechen der Sünder
verursachte.
“Der
Vornehmste unter Zehntausend”
Dem
sündigen, mit Neid und Hass erfüllten Herzen des gefallenen Menschen ist
alles, was an Schönheit, Güte, Wahrheit und Liebe erinnert, zuwider; es
sieht darin nichts Schönes, nichts Wünschenswertes; es ist ihm eine
Untugend. Das bezeugte unser Herr mit kräftigem Ausdruck, indem er sagte:
”Die Finsternis hasset das Licht, und wer von der Finsternis ist, kommt
nicht zu dem Licht, weil das Licht ihre Finsternis offenbar macht.”
(Vergl. Joh. 3:19, 20) Eine weitere Bestätigung der Tatsache, dass ein böses
Herz zuweilen eine herrliche, von Liebe erleuchtete Erscheinung hassen und
verachten kann, sehen wir nicht nur in der Tatsache, dass unser teurer Erlöser
in dieser Weise von denen verachtet wurde, die das “Kreuzige ihn!” über
ihn schrieen, sondern auch an anderen Beispielen. Wir erinnern bloß an
die verschiedenen Berichte über die Verfolgungen von Zeugen der Wahrheit
und daran, wie wenig Eindruck es auf die grausamen Herzen der Verfolger
macht, wenn die Märtyrer über ihre Martern hinwegsehen und für
diejenigen beten konnten, die sie quälten. So bezeugt die Schrift von dem
ersten christlichen Märtyrer Stephanus, dass sein Antlitz leuchtend und
schön war wie eines Engels Angesicht. (Apg. 6:15) Aber infolge ihrer
Herzenshärtigkeit konnten die Richter dieses Engelsangesicht, das
freilich viel weniger engelgleich gewesen sein muss als das des Meisters,
nicht lieben, konnten sie auf seine wundervollen Worte, die freilich weit
weniger wundervoll gewesen sein müssen als die des großen Lehrers, nicht
hören; vielmehr “stürzten sie einmütig auf ihn los und steinigten
ihn” (Apg. 7:57, 58), wie sie vor Pilatus das “Kreuzige ihn!” über
den Herrn der Herrlichkeit geschrieen hatten.
Ja,
Er ist gleichwohl unserer Liebe wert, denn - “Alles an Ihm ist
lieblich!” - Hohelied 5:16